Hartmann, Faber, Richter, Hellstern, Eberts, Möllemann und Rolfes siegen.
In der Zeit vom 10. – 13. September 2020 fanden die 35. Deutschen Meisterschaften im Disc Golf auf der Insel im Salzgittersee statt. Die Ausrichter, der Frisbeesport Landesverband Niedersachsen und die Tee-Timers-Disc-Golf Wolfenbüttel e.V. begrüßten 144 Spielerinnen und Spieler um die Deutschen Meister*innen in 7 verschiedenen Divisionen zu ermitteln. In diesem außergewöhnlichen Jahr war lange nicht klar, ob die Deutschen Meisterschaften überhaupt stattfinden können. Erst 6 Wochen vor der Veranstaltung standen alle Ampeln auf Grün. Sämtliche erforderlichen Genehmigungen waren erteilt, das Hygienekonzept war erstellt und die Vorbereitungen konnten unter Hochdruck zu Ende gebracht werden.
Turnierdirektor Andreas Martin und sein Team veränderten den bewährten Parcours an einigen Stellen und boten einen anspruchsvollen, bestens präparierten Kurs an. Dafür gab es viel Lob und Anerkennung von den Teilnehmenden.
TD Andreas Martin
Insgesamt mussten die Sportler*innen 4 anstrengende Turnierrunden absolvieren. Bedingt durch den bei der DM inzwischen üblichen Golfstart, mit nur einer Runde pro Tag, aber eine durchaus verträgliche Belastung.
Bei den Senior Grandmaster gingen erstmals 8 Spieler an den Start. Es entwickelte sich im Laufe der Runden ein harter Kampf um die Teilnahme am Finale. Erst auf den letzten Bahnen der 3. Runde fiel die Entscheidung, wer am Finaltag an den Start gehen darf. Lediglich Uwe Rolfes von den gastgebenden Tee-Timers Wolfenbüttel zeigte sich von dem Gerangel um die Plätze unbeeindruckt. Er spielte seinen Heimvorteil aus, wurde souverän Deutscher Meister der SGM, vor Vorjahressieger Paul Siggi (DG Niederrhein) und Manfred Ketz (Scheibensucher Rüsselsheim).
Bei den Grand Master wurde die Leistungsdichte der deutschen Spitzenspieler deutlich. Nach 72 gespielten Bahnen lagen nur 5 Würfe zwischen Platz 3 und 11. In der Finalrunde hätten noch viele Spieler auf das Treppchen springen können, aber nur 4 ist das gelungen. Wie bereits im letzten Jahr war es Oliver Möllemann (Hyzernauts Potsdam), der am Ende die Nase vorn hatte. Im Stechen mit Klaus Kattwinkel (DG Deutschland) setze er sich durch und verteidigte seinen Vorjahrestitel. Knapper kann eine Entscheidung nicht fallen. Den dritten Platz teilten sich Mathias Lehn (FSV Darmstadt) und Michael Lüders (Disc-Golf-Guerilla Augsburg).
Etwas anders stellte sich Situation bei den Damen Master dar. Von der ersten Runde an entwickelte sich ein Zweikampf um den Titel zwischen Christine Hellstern (DG Baden-Baden) und der Vorjahressiegerin Susann Fischer (Hyzernauts Potsdam). Erst in der dritten Runde konnte sich Christine Hellstern entscheidend von Susann Fischer absetzen und sicherte sich am Ende überlegen den Titel. Den dritten Platz belegte Disolina Altenberg (DG Niederrhein).
Noch deutlich spannender ging es bei den Master zu. In einem Kopf an Kopf Rennen setzten sich Jörg Eberts (Schwebedeckelkombinat Tschaika Greifswald) und Lucca Seipenbusch (Scheibensucher Rüsselsheim) schnell vom Rest des Feldes ab. In der Finalrunde war es dann der Sieger der beiden Vorjahre aus Greifswald, der sich mit seiner bekannt ruhigen und fehlerfreien Spielweise am Ende durchsetzte. So konnte Jörg Eberts seinen Titel vor dem stark aufspielenden Lucca Seipenbusch erneut verteidigen. Gleich drei Spieler, Jens Erdmann und Martin Dörken (beide Hyzernauts Potsdam) und Stefan Pientschik (Disc-Golf-Guerilla Augsburg) teilten sich den dritten Platz.
Die Junioren zeigten allesamt sehr gute Leistungen. Alle Teilnehmenden spielten durchweg über ihrem aktuellen Rating und deuteten ihr Potential an. Die DGA freut sich über den spielstarken Nachwuchs, der uns zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt. Im Kampf um den Titel ging es zwischen Justus Friedrich (Disc-Golf-Friends Dortmund) und Joris Richter (Eulennest Peine) richtig zur Sache. Lange Zeit sah es so aus, als könnte Justus den Titel einfahren. Doch Joris nutze seine Chance in der Finalrunde und holte einen Rückstand von 4 Würfen auf. So musste auch hier ein Stechen über die Meisterschaft entscheiden. Dabei hatte Joris das nötige Quäntchen Glück auf seiner Seite. Er entschied das Stechen für sich und Justus musste sich trotz sehr starkem Auftritt mit dem 2. Platz begnügen. Den dritten Platz erreichte Philipp Horstmann (DG Lüdinghausen).
Bei den Damen sorgte die Serienmeisterin Antonia Faber (Hyzernauts Potsdam) bereits in der ersten Runde für klare Verhältnisse. Sie erspielte sich einen Vorsprung von 6 Würfen, den sie in den folgenden Runden halten konnte. Bereits zum vierten Mal in Folge wurde sie Deutsche Meisterin. Ann-Katrin Semert (LFC Laer) belegte Platz zwei, den dritten Platz errang Wiebke Jahn (TV Helmstedt). Bei den Damen startete auch die 13-jährige Lilli Skuraß (TV Beckum). Überraschend konnte sie sich sogar für die Finalrunde qualifizieren. Ein Talent mit Potential, auf deren Entwicklung man gespannt sein darf.
Zu einer Wachablösung kam es bei den Open. Der erst 16-jährige Timo Hartmann (ODK Kellenhusen) wurde Deutscher Meister in der offenen Klasse. Bereits in Runde 1 setzte er ein Ausrufezeichen mit einer 1081 gerateten Runde, bei 14 unter Par. Das bedeutete einen Vorsprung von 5 Würfen auf Dominik Stampfer (WSCA Söhnstetten), 7 Würfe auf Marvin Tetzel (Tee-Timers Wolfenbüttel), Kevin Konsorr (Disc-Golf-Friends Dortmund) und Victor Braun (Hyzernauts Potsdam). Während der nächsten beiden Runden konnte Timo den Abstand zu seinen Verfolgern vergrößern, nur Marvin Tetzel, Junioren Europameister von 2014 konnte den Rückstand von Runde zu Runde verringern. Zu Beginn des Finales stellte sich die Frage, kann Timo dem Druck standhalten, oder kann Marvin das Blatt noch zu seinen Gunsten wenden. Dominik und Victor, die beiden anderen Finalisten konnten sich keine Chancen mehr auf den Titel ausrechnen, der verbliebene Podestplatz war hier das Ziel. Es entwickelte sich ein spannendes und hochklassiges Finale. Marvin erzeugte großen Druck, doch Timo konnte dagegenhalten. Am Ende rettete Timo einen Wurf Vorsprung über die Ziellinie. Nach Simon Lizotte wurde erstmals wieder ein Jugendlicher Deutscher Meister im Disc Golf. Marin Tetzel wurde Zweiter, den dritten Platz belegte Dominik Stampfer.
Erstmals wurden die Spieltage im Deutschen Sportfernsehen live übertragen. DFV Vizepräsident Guido Klein, unterstützt von DGA Abteilungsleiter Stephan Mesel, DFV Geschäftsführer Jörg Benner und dem DFV Medienbeauftragten Tim Waddicor übernahmen diese Aufgabe ehrenamtlich. Ein großer Schritt in die Öffentlichkeit unseres Sports.
Auch Frolf war wieder mit von der Partie und begleitete die Finalflights der Damen und Open. Die Highlights der Finalrunden sind auf You Tube zu finden.
Allen, die zu dieser gelungenen Veranstaltung beigetragen haben, einen herzlichen Dank seitens der Abteilungsleitung.
Fotos: Carsten Hoberg
Die 36. Deutschen Meisterschaften finden vom 9.9. – 12-9-2021 in Freiburg (Heads Up) statt. Näheres ab Januar ´21 auf der DM Homepage.
Der Kapitalismus auf seinen Begriff gebracht, erfordert vertragsrechtliche Strukturen. Man könnte dieser Produktionsweise doch wenigstens zugute halten, dass sie, um bestehen zu können, einen Rechtsstaat um sich herum etabliert hat. Wir werden sehen.
Vorab an den Leser: Die Reihenfolge der hier präsentierten Argumente aus dem Buch "Das Kapital" (Band 1) von Karl Marx folgen einem logischen Aufbau. Deshalb bitte ich den Leser, sofern nicht geschehen, vor dem Lesen des 3. Teils zunächst Teil 1 und 2 zu konsultieren.
Kehren wir nun zurück zum Kapitalzyklus des produktiven Gewerbes. Die Arbeiter produzieren also im Auftrag ihres Chefs Waren, die dann im Anschluss verkauft werden. So weit waren wir schon [3]. Aber wir müssen noch etwas anderes klären. Die Arbeiter arbeiten ja nicht umsonst. Der Kapitalist muss ihre Arbeitskraft in Form eines Lohns bezahlen. Dann müssen wir uns also hier erst einmal fragen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Arbeitskraft überhaupt nur gekauft werden kann. Marx spricht von zwei maßgeblichen Bedingungen und nennt sie die "doppelte Freiheit" des Lohnarbeiters. Die Bedingungen umfassen das Können und das Müssen des Verkaufs ihrer Arbeitskraft.
Bedingung (a)/Können: Die Arbeitskraft muss zum Verkauf frei stehen. Ein Arbeiter kann seine Arbeitskraft nämlich nicht verkaufen, wenn er nicht selbst über sie verfügt, z.B. weil er ein Sklave ist. Sie muss vollständig ihm selbst gehören. Er muss selbst frei entscheiden können, ob er einen Arbeitsvertrag eingehen will oder nicht. Dies liegt in einer bürgerlichen Gesellschaft, in der Freiheit das oberste Prinzip ist, jedoch rechtlich vor. In Deutschland ist es z.B. der Artikel 2 des Grundgesetzes, in anderen modernen Staaten hat es in der Verfassung einen ähnlichen Stellenwert. Es ist insofern übrigens kein Zufall, dass wir von Kapitalismus erst seit ein paar Jahrhunderten sprechen und nicht schon vorher, obwohl auch vorher schon Waren für den Basar produziert wurde, nämlich erst seitdem die bürgerlichen Revolutionen in Westeuropa und Amerika und die von oben herbei befohlenen Bauernbefreiungen in Preußen und Osteuropa, diese rechtliche Freiheit durchgesetzt haben, weil es in diesen Nationen ein Arbeiterheer für die neu zu schaffenden Fabriken gebraucht hat. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Arbeitsmarkt, und keinen Arbeitsmarkt ohne freigesetzte Arbeiter.
Bedingung (b)/Müssen: Es reicht jedoch nicht, dass die Arbeiter frei sind. Wie bekommt man sie dazu, nicht nur arbeiten zu können, sondern auch arbeiten zu wollen? Was nützt dem Kapitalisten ein Arbeitsmarkt, wenn sich keiner auf ihm anbieten will? Der Wille, sich zu verkaufen, muss vorhanden sein. Es muss also die gesamte Arbeiterschaft in eine grundlegende kollektive Notlage versetzt sein, dass sie ihre Existenz nur noch durch Lohnerwerb bestreiten kann. Sonst gibt es ebenfalls keinen Kapitalismus. Worin bestimmt sich diese Notlage? Die Arbeiter dürfen nichts anderes zu verkaufen haben außer ihre eigene Arbeitskraft. Hätten sie etwas anderes zu verkaufen, also Waren, müssten sie ja gar nicht für andere arbeiten, sondern bloß diesen Verkauf irgendwie organisieren. Doch dieser Warenvorrat müsste ausreichend groß. Sie bräuchten einen lebenslang dauerhaften Nachschub. Aber wie bringt man sich in den Besitz von so viel Waren, um diese dann dauerhaft verkaufen können? Man müsste sie schon selbstständig produzieren. Und was braucht man dafür? Einerseits die Arbeitskraft, die man mit seinem eigenen Körper selbst zur Verfügung stellt, und andererseits die nötigen Produktionsmittel. Um sich also auf dem Arbeitsmarkt anbieten zu müssen, müsste man "frei" sein von eben diesen Produktionsmittel. Natürlich ist es ein bisschen zynisch von Marx, die Mittellosigkeit als Freiheit zu bezeichnen, aber es spiegelt nur den Zynismus dieser Produktionsweise wieder.
Den Arbeitern wird natürlich nicht verboten, Produktionsmittel zu besitzen, auch das ist ein Teil ihrer Freiheit als Bürger einer kapitalistischen Gesellschaft, sich jeder Zeit welche anschaffen zu dürfen. Die benötigte Mittellosigkeit auf ihrer Seiten muss man nicht durch Verbot und Gewalt erzwingen. Sie stellt sich letztlich auch ganz von selbst ein, denn Produktionsmittel liegen nicht zum freien Gebrauch einfach in der Natur herum. Sie werden hergestellt und ihrerseits als Waren gehandelt. Wer sie haben will, muss sie kaufen. Man muss den Arbeiter bloß gesetzlich drauf festlegen, dass Waren ihren Eigentümer nur dann in legalen Bahnen wechseln, wenn für sie der geforderte Preis bezahlt wird. Das ist das rechtliche Gesetz des Eigentums (dazu mehr in Kapitel 2 im Buch [4]), und es gilt ausnahmslos für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen. Wer sich welche Produktionsmittel leisten kann und wer nicht, stellt sich dann allmählich ganz von allein heraus, wodurch sich die Leute nach diesem Vermögen oder Unvermögen in zwei Hauptklassen sortieren: jene, die es eben können, und jene, die es nicht können.
Geschichtlich betrachtet ist dieser Scheidungsprozess alles andere als gewaltfrei abgelaufen. Die ersten Generationen Kapitalisten hatten ihr "Startkapital" nicht aus dem Nichts, sondern sie haben es mitgeschleppt aus der voran gegangenen, vorkapitalistischen, feudalen Epoche. Entweder sie waren bereits vorher erfolgreiche Händler und Zunftmeister und konnten die in dieser Tätigkeit erwirtschafteten Vermögen als Startkapital einsetzen. Oder sie waren Aristokraten und staatliche Funktionsträger und konnte ihre staatliche Gewalt privat einsetzen, um sich an ihren Untertanen durch Enteignung und Vertreibung zu bedienen. Die Details klärt Marx im 24. Kapitel ("Ursprüngliche Akkumulation" [5]).
Je fortgeschrittener die Konkurrenz, umso eher kommt die Arbeiterschaft in die sachlich erwünschte Notlage, produktionsmittellos zu sein. Heute z.B. muss man schon ein Fabrik und ein Arbeiterheer kaufen können, um mit Mercedes und Volkswagen mithalten zu können. Früher hätte je nach Produkt vielleicht auch schon ein einfacher Werkschuppen oder eine Garage genügt. In den meisten Branchen braucht man ein sehr großes Startkapital, und die anderen sind dann umso mehr umkämpft. Die Produktionsmittel müssen also nicht nur vorliegen, sondern sie müssen dem Stand der Konkurrenz entsprechen, sonst geht man direkt pleite, sondern auch in der passenden Quantität vorhanden sein, falls man nicht allein auf Basis des Größenvorteils nieder konkurriert werden möchte (Stichwort: Skaleneffekt). Wenn man das Geld nicht dafür hat, braucht man einen Kredit. Den wünscht sich natürlich jeder, aber auch hier zeigt sich, dass man den nur bewilligt bekommt, wenn die Unternehmung ausreichend gewinnversprechend ist. Phrasen von der Art "Jeder kann es schaffen!" blamieren sich also nicht erst an der Empirie, an der sich zeigt, dass es in Wirklichkeit fast keiner schafft, sondern sind schon in der Logik der Sache völlig an den Haaren herbeigezogen.
Notiz am Rande: Nach etwa demselben Prinzip vollzieht sich diese Unterscheidung zwischen Habenden und Habenichtsen auch auf globaler Ebene. So entstehen im globalen Norden auf Grund ihres zeitlichen Vorsprungs beim Übergang zum Kapitalismus lauter Volkswirtschaften, in denen genug Reichtum entstehen konnte, um es den dortigen Kapitalisten zu ermöglichen, sich die nötigen Produktionsmittel für eine halbwegs konkurrenzfähige Industrie zu besorgen. Die Staaten des globalen Südens hingegen sind nach dem 2. Weltkrieg viel zu spät und unter ungünstigeren Vorbedingungen in die kapitalistische Konkurrenz gestartet. Insofern ist es zynisch zu behaupten, die Afrikaner wären so arm, weil sie nicht genug arbeiten. Sie müssten sich als Staaten schon jeweils eine halbwegs rentable Auto- und Flugzeug-, ferner auch noch eine Maschinenbau-, Elektronik und Chemieindustrie usw. mit ausreichend geschultem Personal aus dem Stand hinzaubern, damit sie auf dem Weltmarkt auch nur ein halbwegs erfolgreich mitkonkurrieren könnten. Es ist auch zynisch, sie als "Entwicklungsländer" zu bezeichnen. Es wird nichts entwickelt, mancherorts werden Schwellenländer sogar umgekehrt deindustrialisiert, weil sie besagte Konkurrenz verloren haben.
Daraus ergibt sich auch direkt eine Kritik an dem Konzept der Entwicklungshilfe: Wer ernsthaft meint, auch innerhalb des kapitalistischen Weltsystems, diesen Ländern mit Entwicklungshilfe ausreichend helfen zu können, damit sie "auf eigenen Beinen stehen" können, muss schon so viel Geld reinbuttern wollen und können, dass diese Länder in den Stand versetzt würden, mit den bisherigen Industrienationen zu konkurrieren. Dies würde aber den hiesigen Standort als Mitbewerber schwächen. Ein Widerspruch, aus dem die noch so gut gemeinte Entwicklungshilfe nun einmal nicht heraus kommt. Und selbst wenn, es wäre für die Arbeiterschaft aus den bisher genannten Argumenten und Argumenten, die noch folgen werden, in mancher Hinsicht nicht unbedingt zuträglicher.
So bleibt den wettbewerbsmäßig abgehängten Ländern in ihrer Lage nichts weiter übrig, als (a) ihre Rohstoffe zu verscherbeln, an diejenigen, die dafür Geld haben und es zur Befeuerung ihrer eigenen Industrie brauchen. Deshalb kloppen sich in diesen Ländern verschiedenste politische Gruppierungen, sei sie nun nach Ethnie, Stand oder politischer Ideologie sortiert, um die alleinige Kontrolle dieser Ressourcen - mit Übergängen zu Bürgerkriegen. Aber nicht nur die mineralischen auch die landwirtschaftlichen Ressourcen werden exportiert. Land genug ist ja schließlich da, welches die Staaten zur Not an ausländische Produzenten verticken kann (Stichworte: Amazonas, Landgrabbing). Dafür muss man vorher nur die angestammten Bewohner vertreiben. Dies ist dort, wo die Bevölkerung nicht kampflos aufgibt und sich als Guerilla neu formiert, ebenfalls ein kriegsträchtiges Szenario. Die globalen Lebensmittelproduzenten (Nestlé & Co), die sich solcher Ländereien durch legalen Ankauf bemächtigen, produzieren aber für den Weltmarkt. Damit sich das ökonomisch auch wirklich lohnt, werden Urwälder in dystopische Monokulturen (Soja, Palmöl, Tee, Reis, Kaffee, Früchte, Baumwolle etc.) verwandelt. Die Bevölkerung vor Ort braucht sich aber darauf gar nicht erst einzubilden, der dort geschaffenen Agrarreichtum würde auch ihr zukommen. Der muss nämlich bezahlt werden. Aber vom Standpunkt des Kapitals lohnt es sich jedoch gar nicht, ihn dort vor Ort zu verkaufen, wenn man doch im Ausland viel besseres Geld dafür kriegt. Also wird er fleißig exportiert. Was dann als Hungerhilfe in Dürrezeiten zurückfließt, gleich nicht mal ansatzweise aus, was dort ansonsten wegfließt. Es sind lediglich Almosen.
Die abgehängten Staaten könnten auch (b) sich als Tourismusstandort verdingen, mit den bekannten Übergangen zur globalen Prostitution, sowie der Vernutzung und Vermüllung der dortigen Natur. Oder sie könnten (c) sich der überlegenen Produktivität des Nordens doch noch stellen, aber dann halt ganz ohne Maschinen. Um mit der globalen Konkurrenz auch nur ansatzweise wettbewerbsfähig zu bleiben, gibt es dafür nur eine einzige Methode: den Lohn so weit wie möglich herunterdrücken. Dann kommen so Schauergeschichten heraus, dass die Leute da drüben nur 1-2 Euro pro Tag verdienen in 16-Stunden-Schichten unter sengender Sonne, oder Nachrichten von einstürzenden Fabrikhallen, weil auch die dortigen Kapitalisten nicht genug Geld haben, um solide Werkhallen hinzubauen. Das notwendige Lohngefälle zwischen industrialisierten und nicht-industrialisierten Ländern bespricht Marx in Kapitel 20 [6].
Dass die Leute da drüben trotz der beschissenen Lage irgendwie überleben, wenn auch deutlich kürzer als hierzulande und unter viel prekäreren Verhältnissen, verdankt sich einerseits der Subsistenzwirtschaft und andererseits den Geldüberweisungen ihrer Verwandten aus dem reichen Ausland, die es geschafft haben, aus ihrer dortigen Misere abzuhauen, um sich in einer hiesigen einzurichten. So können sie wenigstens als Putzkraft bei einer Fast-Food-Kette ein paar Euro für ihre daheim gebliebene Familie hinzuverdienen. Die Verachtung als "Wirtschaftsflüchtlinge" ist ihnen garantiert. Die hiesigen Kapitalisten freut der ausländische Neuzugang ungemein, weil so zusätzliches Menschenvolk den Preis für Arbeit drückt, erstens, weil das nun mal das Gesetz von Angebot und Nachfrage ist, und zweitens weil sie in ihrer Notlage auch noch erpressbarer sind, und sich deshalb schneller bereit erklären, jeden Job zu jeder Bedingung anzunehmen.
Zwischenfazit: Der Kapitalismus ist tatsächlich keine unrechtmäßig Veranstaltung. Die Länder des Nordens berauben die Länder des Südens nicht, sie kaufen ihnen schon auch ihre Produkte wirklich ab - aber eben zu den Bedingungen des Weltmarkts, denen diese verelendeten Staaten blöderweise ökonomisch nicht gerecht werden können. Zynisch könnte man sagen, sie sind selbst schuld, wenn sie mangels Alternativen in diese Bedingungen einwilligen. Zu behaupten, dass Landvertreibung und Kriege um Ressourcen doch wenigstens als Ausdruck kapitalistischer Unrechtmäßigkeit anerkannt werden müssten, ist auch kein starkes Argument, da ja jeder marktradikale Ideologe genau dasselbe denkt. Einem solchen wäre es auch viel lieber, wenn die Marktwirtschaft ohne solche unschönen Begleiterscheinungen praktiziert würde, da es sein idyllisches Bild vom Kapitalismus stört.
Argument 6: Der Mehrwert gehört notwendig dem Kapitalisten
Nicht nur, dass vor dem Gesetz alle gleich sind (Artikel 3 im Grundgesetz) - zumindest idealerweise, wenn auch hier sich im Konkreten zeigt, dass Leute mit Geld sich natürlich den besseren Rechtsbeistand leisten können -, auch im Produktionsprozess geht es alles andere als unrechtmäßig zu. Dass dem Arbeiter nicht die von ihm produzierte Waren gehören, auch nicht anteilig in Form einer Beteiligung am Mehrwert, ist nicht nur nicht unrechtmäßig, sondern durchaus folgerichtig. Beide Elemente der Produktion, die Arbeitskraft und die Produktionsmittel, gehören für den Moment ihres Einsatzes dem Kapitalisten. Und wenn zwei Dinge, die ihm gehören, miteinander wechselwirken, um ein neues Ding entstehen zu lassen, dann gehört auch dieses dem Kapitalisten. Wem soll es denn auch sonst gehören? Es ist schließlich allein sein Eigentum, welches neues Eigentum schafft.
Moment! Bei den Produktionsmitteln mag das vielleicht noch klar sein: das sind Dinge, die der Kapitalist gekauft hat und über deren Gebrauch er qua Eigentum nach Belieben verfügen kann. Aber wie ist das mit seinen Angestellten? Sie gehören ihm doch nicht. Es wurde oben doch schon festgestellt, dass sie frei sind (vgl. Argument 5). Was genau hat der Arbeiter denn nun verkauft, als er den Arbeitsvertrag unterschrieben hat? Sich selbst? Nein, nicht ganz. Nicht sich als ganzen Menschen mit Haut und Haar hat er veräußert, sonst wäre er in der Tat voll im Besitz seines Käufers, ein unfreier Sklave, sondern lediglich seine Arbeitskraft, die Fähigkeit, bestimmte Dinge zu verrichten. Dieser Verkauf ist an zuvor vereinbarte Bedingungen geknüpft - zeitliche Befristung, inhaltliche Festlegung des Tätigkeiten, Höhe der Entlohnung etc. -, zu denen er ohne Zwang eingewilligt hat. Er hat sich ja selbst um die Stelle beworben.
Die Arbeitskraft hängt nun dummerweise am Menschen selbst dran. Er kann nicht die Arbeitskraft verkaufen und selbst zu Hause bleiben. Er ist körperlich von ihr nicht zu trennen. Der ganze Mensch muss am Arbeitsplatz erscheinen. Der Verkauf der Arbeitskraft wurde ihm nicht aufgezwungen. Er hat sie für den gekauften Zeitraum freiwillig gegen eine lohnförmige Gegenleistung abgegeben. Und da sie in diesem Zeitraum dem Kapitalisten gehört, ist es eigentumsrechtlich nur überaus konsequent, dass auch das Resultat beider gekauften Elemente des Produktionsprozesses und insofern auch der Ertrag aus dem Verkauf der produzierten Waren vollständig dem Kapitalisten gehört.
Was spricht also für den Kapitalismus? Dass er ungerecht und unrechtmäßig sei, kann man ihm nun jedenfalls nicht ankreiden. Aber gelebte Tauschgerechtigkeit sieht am Ende nun einmal so aus, dass sich der Reichtum in den Händen weniger konzentriert. Man braucht gar keine Korruption, keine Betrügereien, keine Wirtschaftsskandale und dergleichen, damit sich das globale und nationale Menschenvolk in arm und reich sortiert. Solche Dinge kommen allenfalls on top hinzu, satteln sich quasi als kriminelle Handlungen auf die Strukturen des Kapitalismus auf, entsprechen aber nicht seinem Begriff. Auch hier also wieder Fehlanzeige. Immer noch haben wir nichts gefunden, das für den Kapitalismus spricht. Aber vielleicht werden wir fündig in den Teilen 4 und 5.
Teil 4: Im Kapitalismus wird wenigstens niemand ausgebeutet
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Links in diesem Artikel: [1] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kapitalismus-schafft-nuetzliche-Gueter-4873238.html [2] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kapitalismus-schafft-Reichtum-4873240.html [3] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kapitalismus-schafft-nuetzliche-Gueter-4873238.html [4] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_099.htm [5] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm [6] http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_583.htm
Der Kapitalismus schafft immensen Wohlstand. Inwiefern stimmt das und wie stellt er das an?
Vorab an den Leser: Die Reihenfolge der hier präsentierten Argumente aus dem Buch "Das Kapital" (Band 1) von Karl Marx folgen einem logischen Aufbau. Deshalb bitte ich den Leser, sofern nicht geschehen, vor dem Lesen des 2. Teils zunächst Teil 1 zu konsultieren.
Argument 3: Erfolg der Produktion ist nicht garantiert
Es kann aber eben auch sein, dass ein Investment eine Ware ganz vergebens produzieren lässt, weil sie keinen Absatz findet. In einer Marktwirtschaft weiß man notwendig immer erst hinterher, ob das eigene Warensortiment jemandem von Nutzen war oder nicht. Die Idee kann noch so toll sein. Wenn das Zeug keiner haben will - und Gründe dafür gibt es diverse -, dann hat sich der Kapitalist einfach verspekuliert, und es bleibt der erhoffte Rückfluss des vorgeschossenen Kapitals und eines darüber hinausgehenden Mehrwerts schlichtweg aus. Die moralische Anklage, die ansonsten üblicherweise nur dem Finanz- und Immobiliengewerbe gilt, doch reine, raffende Spekulanten zu sein, trifft insofern auch auf das produktive Kapital zu. Wenn man es schon moralisch sehen will, dann konsequent.
Vom Standpunkt des Kapitalisten hat er im Falle eines solchen Reinfalls bloß Geld verloren, mit eventuell insolvenzrechtlichen Konsequenzen. Für die übrige Gesellschaft bedeutet es aber eine unnötige Belastung der Umwelt, immerhin wurden Rohstoffe verbraucht, und eine demoralisierende Verschwendung von Arbeitskräften.
Das Ganze ist auch kein bedauerlicher Einzelfall, sondern systemisch notwendig. Erstens gibt es in der Konkurrenz der Unternehmer notwendig Verlierer, denn genau darum geht es ja, sich wechselseitig Marktanteile abzuknöpfen, d.h. andere vom Markt zu verdrängen, da anders der Mehrwert auf Dauer nicht zu erwirtschaften ist. Zweitens ist die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise felsenfest ins System eingeschrieben. Marx entwirft am Rande eine Theorie des industriellen Zyklus, wonach die Industrie periodisch eine Reihenfolge von "mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation" durchläuft. Bisher konnte man ihn diesbezüglich nicht an der Empirie blamieren. Das Phänomen der Konjunkturzyklen ist unter Ökonomen ja weithin bekannt.
Argument 4: Der Wert von Waren ist durch objektive Bedingungen bestimmt
Obwohl nun jede Warenproduktion Spekulation ist, können wir - und zwar ohne parteiisch werden zu müssen - über den Mehrwert im produktiven Sektor dennoch festhalten, dass er, obwohl sein Rückfluss ungewiss ist, kein Resultat des reinen Zufalls sein kann, sondern auf einer systematischen Grundlage erzeugt wird. Warum? Jede Investition, die weltweit verausgabt wird, um eine Produktion anzuregen oder aufrechtzuerhalten, ist ja gerade scharf auf den Mehrwert. Niemand würde mit einer Gewinnabsicht Kapital investieren, wenn nicht mit einer gewissen Verlässlichkeit auf einen erhöhten Geldrückfluss spekuliert werden könnte. Immerhin leistet man sich den Bau von Fabriken, die Miete von Bürogebäuden und eine langfristige Vertragsbindungen von Arbeitskräften und Zulieferern. Das sind alles hohe Kosten und Risiken, die wohlüberlegt eingegangen werden müssen.
Um näher zu bestimmen, wo der Mehrwert hergezaubert wird, müssen wir uns einen normalen Kapitalzyklus näher anschauen. Dieser besteht aus dem immer selben Dreischritt:
(1) Ankauf von Arbeitskräften und sachlichen Mitteln der Produktion (Arbeitsmaterialien, Arbeitswerkzeuge, Produktionsstätte, etc.).
(2) Erzeugung der beabsichtigten Waren durch planvolles Zusammenwirken dieser beider Elemente.
(3) Verkauf der erzeugten Waren und dadurch Rückfluss der vorgeschossenen Geldsumme samt Mehrwert.
Wenn der Mehrwert also kein Zufall ist, sondern systematisch erzwungen wird, dann muss er durch einen dieser drei Schritte erklärt werden. D.h. an irgendeiner dieser drei Stellen muss er der vorgeschossenen Wertsumme einen Zuwachs hinzufügen.
Schritt (1) und Schritt (3), der An- und Verkauf von Waren, sind bis auf ihre Gegenläufigkeit im Prinzip dieselben Operationen. Wenn man durch das bloße Kaufen oder Verkaufen systematisch einen Mehrwert erzielen kann, dann kann man ihn durch die jeweilige Gegenoperation genauso gut auch wieder verlieren. Beide Operationen neutralisieren sich.
Und in der Tat, wenn mit einer Geldsumme eine Ware gekauft wird, wechseln Geld und Ware lediglich ihren Besitzer, sie sind und bleiben durch diese Transaktion in ihrem Wert aber unangetastet. Marx erläutert diesen Punkt viel detailreicher, indem er seinem Leser schon früh im Buch klar macht, worin sich der Wert einer Ware bestimmt und was seine Bewegungsgesetze sind, d.h. unter welchen Bedingungen der Wert steigt oder sinkt. Mit diesem Wissen ausgestattet ist das Rätsel um den Mehrwert kein großes mehr.
Doch auf all dies soll hier erst einmal gar nicht so sehr eingegangen werden, das kann nur die Lektüre des Originals leisten. Die obige Ausführung sollte dem hiesigen Leser lediglich ein paar Hinweise geben, um die Schritte (1) und (3) als mögliche Quellen des Mehrwerts plausibel auszuschließen. Also muss sich diese in Schritt (2) befinden. Diese Sorte Beweis ist kein Argument bei Marx, sondern wird hier nur vorgebracht, um den Leser schnellstmöglich zu einer vorläufigen Einsicht zu bringen. Wir wissen damit noch nicht, wie die Mehrwertschöpfung im einzelnen funktioniert, aber wenigstens benennen wir schon mal ihren Ort, den Produktionsprozess.
Diesen analysiert Marx in Kapitel 5 [2] seines Buchs, gleich im Anschluss an die Einführung des Kapitalbegriffs [3], und benennt die allgemeinstes Bestimmungen eines jeden Arbeitsprozesses, die immer zutreffen, egal wie die gesellschaftlichen Umstände auch sein mögen. Doch hält er als eine Besonderheit speziell der kapitalistischen Produktionsweise fest - im Gegensatz zu den Arbeitsprozessen anderen Gesellschaftsformen wie z.B. der Sklaverei, dem Feudalismus, der Subsistenzwirtschaft etc. -, dass sich im Arbeitsprozess gleichzeitig auch ein Verwertungsprozess vollzieht. Will sagen: Der Arbeitsprozess fertigt eben nicht nur ein unschuldiges Produkt an, sondern es ist ein Produkt mit einem Wert, immerhin kosten die gefertigten Dinger ja was, wenn sie auf den Markt kommen, und ihr Preis kann zwar schwanken, aber ist nicht vollends beliebig irgendwo um diesen Wert herum.
In die Fertigung eines Produkts gehen nicht nur die versammelten Arbeitskräfte der Belegschaft mit ein, die nötig sind, um es zu produzieren und zu vertreiben, sondern auch die gesamte Produktionsumgebung (Werkhalle, Büro etc.), Werkzeuge und Arbeitsmaterialien wie Rohstoffe und Vorprodukte, die allesamt gekauft wurden, also ebenfalls einen Wert haben. All diese vorgeschossenen Werte tragen zum Wert des Endprodukts bei und Marx legt in Kapitel 6 [4] in Fortsetzung seiner zu Beginn des Buchs entwickelten Theorie des Werts akribisch dar, wie und in welchem Umfang dies geschieht.
Jedenfalls kann man selbst ohne dieses Detailwissen jetzt schon festhalten, dass der Verwertungsprozess sich den Arbeitsprozess notwendig unterwirft. Wenn der Arbeitsprozess nicht zu einer gewünschten Verwertung hinreicht, muss er aufgegeben oder angepasst werden, mit allen negativen Konsequenz für den Arbeiter, den Konsumenten des Endprodukts und die Natur.
Bedeutet: Wie genau die Arbeit, die der Arbeiter an seinem vorgefundenen Arbeitsplatz ausführen muss, oder die Güte des gefertigten Produkts, mit der sich der Konsument am Ende herumplagen muss, also letztlich ausfallen, verdankt sich - wie sich auch hier nochmal zeigt - nicht so sehr den Wünschen der maßgeblich Beteiligten (Arbeiter und Konsumenten), sondern bloß einer Rentabilitätsrechnung. Dabei interessieren z.B. den Arbeiter als dem Produzenten des stofflichen Reichtums doch ganz andere Fragen, etwa, , ob seine Arbeit einen gesellschaftlichen Nutzen stiftet, ob es sich bei ihr um eine erfüllende Tätigkeit handelt, ob sie seine Gesundheit und Freizeitgestaltung belastet, und noch etliche Frage mehr, jedenfalls keine Fragen der Rentabilität.
Es ist doch kein Geheimnis und insofern auch kein Zufall, dass sehr viele Menschen - die Wissenschaft spricht wohl sogar von einer Mehrheit - ihren Arbeitsplatz, also ausgerechnet den Ort, an dem sie einen Großteil ihres Lebens zubringen müssen, überhaupt nicht mögen (vgl. Teil 5). Kein Wunder, denn ihre Befindlichkeiten haben vom Standpunkt des Verwertungsprozesses keine Priorität und werden nur berücksichtigt, wenn es diesem nutzt. Dann kann es natürlich auch schon mal vorkommen, dass Gesichtspunkte wie Work-Life-Balance in den Mittelpunkt einer Unternehmensumstrukturierung gerückt werden, jedoch durch die Medien stets begleitet mit dem Hinweis, dass doch auch das Unternehmen davon profitiert. Es soll wohl ja keiner auf die dumme Idee kommen, dass die Einrichtung eines angenehmen Arbeitsplatzes ein Zweck für sich sein könnte.
Doch zurück zum Verwertungsprozess. Sehen wir näher zu: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft machen alle Arbeiter zunächst etwas Unterschiedliches. Die eine Person macht dies, die andere das. Doch was sie alle auch tun, egal welcher "konkreten Arbeit" sie im Einzelfall nachgehen, ob sie bauen, ob sie putzen, ob sie denken usw. abstrakt gesehen machen sie alle ein und dasselbe: sie alle leisten einen Aufwand, sie malochen, wenn man so will. Marx nennt das "abstrakte Arbeit", d.h. sie verausgaben, ganz allgemein gesprochen, Muskeln, Sehnen, Hirn, Nerven usw. Das ist ihnen allen gleich, das macht sie überhaupt erst qualitativ unterschiedslos und damit quantitativ vergleichbar. Bei der abstrakten Arbeit kommt es nur auf die Menge an, auf das Wieviel, die Zeit und die Intensität der körperlichen Beanspruchung, bei der konkrete Arbeit hingegen auf das Was und Wie der Arbeit an, also auf die Handfertigkeiten und das Know How.
Im Verwertungsprozess passieren im Wesentlichen nun zwei Dinge. Zunächst gibt es die reine Wertübertragung aus den Produktionsmitteln auf das Endprodukt. D.h. die Rohstoffe, die Vorprodukte, die Werkzeuge, die Fabriken usw. geben alle einen Teil ihres Wertes an das Endprodukt weiter, verlieren damit aber ihrerseits selbst allmählich an Wert. Diese Übertragung findet letztlich durch konkrete Arbeit statt. Welche genaue Rolle sie dabei spielt und in welchem Umfang die Wertanteile auf diese Weise im Einzelfall abgegeben werden - ob ganz oder nur anteilig etc. -, wird im Buch detailliert erklärt, aber empirisch kennt man das ja auch aus dem Alltag, z.B. aus so Sprüchen in den Wirtschaftsnachrichten: "Das Unternehmen wälzt die ihm zusätzlich entstandenen Kosten auf den Verbraucher ab." Das leuchtet jedem direkt ein. Die ganzen Sachkosten der Produktion werden ganz einfach an die Kunden weitergereicht.
Aber! Das bloße Weiterreichen der Kosten bringt noch keinen Wertzuwachs, es bleibt lediglich eine Übertragung. Dieser entsteht durch die gleichzeitig geleistete abstrakte Arbeit. Diese reine Verausgabung von Körper- und Denkkraft bewirkt uns am Ende den erwünschten Wertzuwachs. Wenn diese Logik nun stimmt, dann müsste es der Tendenz nach heißen: je mehr abstrakte Arbeit aufgewandt wird, umso höher der Wert der Ware.
Damit operiert Marx also mit einem sehr bestimmten Wertbegriff. Marxens gesamte Theorie der Ausbeutung, Armut, Konkurrenz, Landflucht, Reichtumsakkumulation und -konzentration usw. basiert letztlich auf der Frage: Was ist der Wert einer Ware? Das ist die zentrale Frage, von der alles abhängt. Denn: Ohne Wert auch kein Mehrwert. Und ohne Mehrwert z.B. keine spezifisch kapitalistische Form der Ausbeutung (vgl. Teil 4). Ihm war klar: Der Wert ist nichts Geringeres als die Elementarform der gesamten Marktwirtschaft. Er durchdringt einfach alle Aspekte des Wirtschaftsgeschehens. Wenn man dieses verstehen will, mit all seinen Sachzwängen, die maßgeblich unser Leben bestimmen und denen wir oftmals wie einer Naturgewalt ohnmächtig gegenüber stehen, ist es eben unabdingbar, den Wert begrifflich richtig zu erfassen, denn ansonsten bleibt alles, was uns sogenannte Wirtschaftsexperten dazu vermelden, im Grunde doch nur Spekulation und Ideologie (vgl. Teil 5). Und weil der Wert so zentral ist, behandelt er diesen selbstverständlich bereits ab den Anfangsseiten seines ersten Kapitels [5], worauf wir hier jedoch nicht stark eingehen. Dort arbeitet er den Begriff der abstrakte Arbeit heraus und erklärt, warum einzig sie die Substanz des Wertes sein kann.
Das haben viele Theoretiker bereits vor ihm getan, z.B. William Petty, Benjamin Franklin, Adam Smith, David Ricardo etc., sie alle hatten bereits eine ähnliche "Arbeitswertlehre" und entwickelten daraus ihre jeweils eigenen Theorien, die dann aber eben nicht so kritisch ausfielen wie bei Marx, sondern vielmehr ein gewisses Lob des Kapitalismus begründeten.
Der Game Changer bei Marx, der die Arbeitswertlehre in eine Systemkritik verwandelt hat, besteht in seiner begrifflichen Schärfe, nicht die verschiedenen Aspekte von Arbeit (konkret, abstrakt) und Wert (Gebrauchswert, Tauschwert) durcheinander zu bringen. Seine Vordenker halten es noch eher umgangssprachlich, wenn sie davon reden, dass die Arbeit den Wert schafft. Marx hingegen erklärt, welche Arbeit, wie welchen Wert schafft und präzisiert das im Fortlauf des Buchs. Das Argument seiner Vorgänger für die Arbeitswertlehre: es ist plausibel und deckt sich mit den meisten Alltagsbeobachtungen. Marx hingegen reicht das nicht, er liefert einen logischen Beweis für diese Behauptung, präzisiert dadurch die voraus gegangenen Versionen der Arbeitswertlehre an mehreren Stellen und bügelt darüber erst einige offene Widersprüche aus.
Einige dieser Widersprüche wären:
Wieso hat ein Klumpen Gold, welchen man zufällig am Wegesrand findet, trotzdem einen hohen Wert, obwohl der Finder kein bisschen dafür gearbeitet hat? Er hat ihn ja lediglich gefunden und in Besitz genommen. Auflösung: Dem Goldklumpen sieht man auf dem Markt eben nicht an, ob es Produkt einer anstrengenden Goldschürfertätigkeit ist oder bloß irgendwo gefunden wurde. Also behandeln ihn Käufer und Verkäufer so, als sei er das Produkt von Arbeit, und messen ihn eben daran, wie viel Arbeit im gesellschaftlichen Durchschnitt beim vorliegenden Stand der Produktionstechnologie notwendig wäre, um diesen Klumpen zu fördern.
Wieso werden die härtesten und einseitigsten Jobs meist schlechter bezahlt, obwohl sie doch mehr Aufwand bedeuten und damit mehr Wert schaffen sollten? Die Auflösung liefern wir später in der Artikelserie, zum einen kurz in Teil 3, wo es um die härtesten Jobs geht, mit langen Arbeitsschichten. Dies betrifft global gesehen die "Entwicklungsländer", deren Jobs so hart sind, um wenigstens halbwegs mit der Produktivität der Industrienationen mithalten zu können (beispielsweise in der Textilbranche); um zum anderen in Teil 5, wo er klärt wird, warum es im Kapitalismus überhaupt eine Tendenz zu vereinseitigten Jobs gibt.
Wie kommt es, dass der Wert eines Dings von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit schwanken kann? Solche Beobachtungen liegen ja tatsächlich vor, aber sie machen unter einer naiven Arbeitswertlehre nur wenig Sinn, da die verausgabte Arbeit, die in den produzierten Waren bereits steckt, dieselbe ist und bleibt und nicht rückwirkend mehr geändert werden kann, sobald die Ware einmal produziert ist - sie müsste also doch bis zum Verkauf, bevor im Konsum ihre allmähliche Vernutzung und damit auch ihre Wertminderung beginnt, konstant bleiben, sich also überall und jederzeit auch in gleichen Preisen äußern. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die gleiche Tafel Schokolade, vom selben Fabrikanten hergestellt wurde, im Discounter günstiger ist als im Kiosk gleich nebenan. Dies ist weder durch zusätzlichen Produktions- noch durch zusätzlichen Transportaufwand zu rechtfertigen. Auflösung: Um solche Effekte und Widersprüche korrekt verstehen und erklären zu können, muss man nicht nur die Bestimmung und Bewegungsgesetze des Werts kennen, sondern auch eine Unterscheidung einführen zwischen dem Wert und dem Preis einer Ware (im Buch Kapitel 3 [6]), einen Unterschied, den die VWL gar nicht kennt oder kennen will und deswegen auch so regelmäßig auf allerlei Illusionen hereinfällt. Mit diesem Wissen würde es z.B. viel klarer, wieso auf dem Basar, Preise überhaupt nachverhandelt werden können, wenn dieser doch eigentlich durch die bereits im Produkt verausgabte Arbeitsmenge fix und fertig feststehen müsste. Es würde also klarer, wie das Gesetz von Angebot und Nachfrage auch dann noch fortbestehen kann, wenn die Werte fix im Produkt vorliegen - eben als Abweichung des Preises vom Wert. Warum es diese Abweichung notwendig geben muss, erklärt Marx dort ebenfalls.
Wieso hat unbearbeiteter Boden, auf welchen keine Arbeit verausgabt wurde, überhaupt einen Preis und wie bestimmt er sich? Auflösung in Buch 3 des Kapitals.
Wenn man sich all solche und einige andere Widersprüche nicht sorgfältig durch eine bereinigte Form der Arbeitswertlehre auseinander dröselt, dann verfällt man auf den Schein, alle Preise letztlich komplett willkürlich sind, und erklärt wie die VWL diese scheinbare Willkür gleich zur Natur der Sache selbst. Dies nennt sich dann Nutzenwertlehre. Sie besagt im Wesentlichen, dass der Wert einer Ware steht und fällt mit der inneren Bereitschaft der Leute, für sie zu bezahlen. Und diese innere Bereitschaft wiederum hänge von dem Nutzen ab, den die Ware stiftet. Und der variiert mit den beteiligten Individuen, sei also insofern willkürlich.
Die Widersprüche, die sich hieraus für die Theorie des Preises ergeben, sind unauflösbar. Das beirrt die VWL aber ganz und gar nicht. Zu ihrer "Fundierung" ziehen sie relativ billige Metaphern heran, nach dem Motto: In der Wüste würde ein König doch wohl für ein Glas Wasser, das im Grunde nichts wert ist, sein halbes Reich hergeben, um nicht zu verdursten. Es ginge ja schließlich ums Überleben, was ja wohl einen sehr hohen Nutzen für den König hat. Oder: Wie kommt es, dass Kunstwerke, an denen ein Künstler vielleicht gerade einmal ein paar Stunden herum gewerkelt hat, also kaum Arbeit verausgabt hat, in Auktionshäusern für sehr teures Geld gehandelt werden? Oder: Warum haben Indianer arbeitsaufwendig zu produzierende Felle gegen billige Glasperlen eingetauscht? (Wenn es historisch überhaupt stimmt und von einer dauerhaften Tauschtätigkeit überhaupt die Rede sein kann.)
Wir werden diese "Phänomene" - seien sie ausgedacht oder echt - dem Leser jetzt nicht im Sinne der Arbeitswertlehre auflösen, aber eins fällt an solchen Beispiel doch schon auch direkt auf: Es sind wohl nicht weniger als solche Extremszenarien nötig, um die Arbeitswertlehre zu attackieren. Eine Robinsonade mit einem verdurstenden König in der Wüste wirft jedenfalls ganz andere Fragen auf als solche nach dem monetären Wert von Wasser in der Wüste. Das ist ja noch nicht mal eine Ökonomie, die da beschrieben wird, eher ein Erpressungsverhältnis. Was würde der König denn für das zweite Glas hergeben? Die Hälfte von der Hälfte des Königsreichs? Da fehlt es vorne und hinten an ökonomischen Bestimmungen. In solch einem fiktiven Szenario ist die Preisbildung wirklich bloß Willkür. Und der Kunstmarkt? Was ist denn der Arbeitswert, d.h. der gesellschaftlich notwendige Produktionsaufwand, von mit Ideologie überladenen - ausgerechnet! - Einzelstücken. Und welche Art von Käufern tummelt sich auf solchen Märkten? Es sind ja gerade nicht diejenigen, die auf Arbeitswerte achten müssen, weil sie ohnehin von fremder Arbeit leben (vgl. dazu Teil 4). All solche Szenarien zeichnen sich gerade darin aus, dass sie deutliche Abweichungen vom marktwirtschaftlichen Normalvollzug sind. Und ausgerechnet diese Abweichungen sollen den stinknormale marktwirtschaftliche Betrieb erklären, wie er in jeder Sekunde millionenfach auf dem Planeten stattfindet?
Was bei diesen nutzenwertbasierten Theorien noch auffällt und sie sehr wissenschaftlich erscheinen lässt: Sie sind zum Teil hochmathematisch. In den Lehrbüchern und theoretischen Analysen sieht man lauter Formeln, Differentialgleichungen, Graphen usw. All das erweckt natürlich sofort den Anschein von Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit. Aber Vorsicht! Man muss schon sehr drauf achten, welche Begriffe da mathematisiert werden und ob dies überhaupt gerechtfertigt ist. Zum Beispiel geht es in den Lehrbücher oft darum, rechnerisch Szenarien zu bestimmen, bei denen der Nutzen maximal wird. Aber: Kann man Nutzen in quantitative Einheiten so zerlegen, dass man überhaupt von einem Maximum sprechen kann? Ist dies begrifflich sinnvoll? Abstrakte Arbeit hingegen hat immerhin ihr Maß in Zeit und Intensität (wobei sich letztere auch wieder in Zeit auflöst). Was ist das Maß des Nutzens? Das Geld? Und was ist der Wert des Geldes? Wenn man dem nachspürt, verrennt man sich in lauter Zirkelschlüsse. Es gibt ein paar Bücher neuerer Zeit, die sich mit verschiedenen Fehlern der Nutzenwertlehre befassen1 [7], auch Marx selbst polemisiert stellenweise in verschiedenen Publikationen dagegen und ein paar Argumente kann man sich aus der Lektüre des Kapitals ja auch selbst erschließen. Ein anderes Beispiel für den fehlerhaften Einsatz von Mathematik sehen wir in Teil 4 im Exkurs zur Berechnung der Rate des Mehrwerts, die man eben auch falsch berechnen kann.
Hohe Mathematik braucht man bei Marx nicht zu erwarten.2 [8] Zur Beruhigung zukünftiger Leser seines Werks, muss dies vielleicht erwähnt werden. Ein einfacher Umgang mit Bruchzahlen und Dreisätzen genügt, um seine Rechenbeispiele nachvollziehen zu können (wenn man dies denn überhaupt möchte und einem die Theorie auch ohne Beispiele einleuchtet). Komplizierter wird es kaum. Aber das Fehlen von Mathe ist kein Mangel seiner Theorie, kein Ausdruck von Unwissenschaftlichkeit. Der Mangel an Mathematik im Kapital hat jedenfalls nicht dazu geführt, dass es an Mathematikern unter den Marxisten übermäßig mangele, weil es ihnen bei Marx zu unwissenschaftlich zuginge. Ganz im Gegenteil, marxistische Mathematiker finden gerade in Marxens Kapital die deduktive Darstellungsweise wieder, die sie aus ihrer eigenen Disziplin nur all zu gut kennen und zu schätzen wissen.
Eine Arbeitswertlehre, jedenfalls in der Version von Marx, nennt man eine "objektive Wertlehre". Das ist ein feststehender Begriff und meint nicht so sehr den Anspruch auf Objektivität, den ohnehin jede Wissenschaft verfolgen sollte, sonst ist sie keine, sondern dass der Wert eines Dinges objektiv durch äußere Faktoren festgelegt ist und nicht vom individuellen, subjektiven Willen der beteiligten Tauschpartner abhängt. Dementsprechend bezeichnet man die Wertlehre der VWL als "subjektiv". Es ist nicht bloß Pedanterie, sondern macht schon einen großen Unterschied, welche Wertlehre die korrekte ist.
Folgt man der marxschen, so mündet dies letztlich in einem vernichtenden Urteil über diese Gesellschaft, nämlich dass sie eine unreformierbare Ausbeutungsgesellschaft ist, die notwendig Elend produziert. In diesem Sinne kann den Kapitalismus beim besten Willen nicht so abändern, dass die Ausbeutung zum Verschwinden gebracht werden könnte. Mehr noch: Dadurch dass die Warenwerte objektiv feststehen, sie also nicht durch uns kontrolliert werden, sind wir ihren Bewegungen und den Turbulenzen, die sie auf dem Markt und insofern auch in unserem Leben erzeugen, hilflos ausgeliefert. Sie sind es letztlich, die entscheiden, ob und wie etwas produziert wird oder nicht produziert nicht. Es gab z.B. in der Gestalt der Sowjetunion durchaus Versuche, die Werte der Produkte staatlich zu kontrollieren oder besser gesagt zu diktieren, aber damit handelt man sich eben neue Widersprüche ein. Eine Planwirtschaft war das jedenfalls nicht, eher könnte man sie als eine politisch zentral gesteuerte Hebel- und Anreizwirtschaft bezeichnen, was etwas deutlich anderes ist.3 [9] Nein, man muss schon die ganze Geschichte mit dem Wert komplett aufgeben, wenn man sich von seiner Gewalt befreien will. Dies war überhaupt einer der wichtigsten Kritikpunkte von Marx und Engels, dass wir, obwohl wir doch die technische Seite unserer Produktion durchaus beherrschen, vollkommen machtlos sind gegen die bewusstlosen Bewegungen des Kapitals und ihren katastrophalen Auswirkungen (z.B. Massenentlassungen).
Folgt man hingegen der VWL, ist die Sache nicht ganz so trostlos, da der marxsche Ausbeutungsbegriff innerhalb ihres Systems überhaupt nicht entwickelt werden kann. Ganz im Gegenteil wird in ihrem System nach Möglichkeit immerzu nur der Nutzen der beteiligten Akteure maximiert. Und eine Gesellschaft, in der alle Mitglieder ständig ihren Nutzen maximieren, ist doch wohl überhaupt die beste aller möglichen Welten. Mit der rosa Brille der VWL sieht sie jedenfalls so aus.
Jetzt stehen wir also zwischen diesen beiden Lagern und müssen uns entscheiden. Was nun? Das ist aber keine Glaubensfrage. Meint man es ehrlich mit ihr, dann müsste man die jeweiligen Argumentationen studieren und nach bestem wissenschaftlichem Gewissen gegeneinander halten - nur das ist intellektuell redlich. Der Trick ist nämlich nicht die bloße Behauptung, die ja auf beiden Seiten leicht zu haben ist, sondern die Güte der jeweils angebotenen Beweisführung. Man beachte jedoch, dass egal, was man überzeugender findet und wie man sich entscheidet, es die Argumente aus Teil 1 nicht tangiert. Deswegen wurden sie auch voran gestellt, obwohl Argumente, die mit dem Mehrwertbegriff argumentieren, in der marxschen Reihenfolge der Theorieentfaltung erst nach 120 Seiten kommen .
Was spricht denn nun also für den Kapitalismus? Ja, es stimmt, er schafft so ziemlich den alleinigen Reichtum der Gesellschaft, aber erstens auch nur deshalb, weil neben ihm bis auf ein bisschen Subsistenzwirtschaft auf der eigenen Datsche keine andere Reichtumsproduktion zulässig ist. Es gibt keine planwirtschaftlichen Parallelstrukturen im großindustriellen Maßstab, die den Reichtum auf alternative Art nach anderen Einsetzungskriterien von Arbeit und Natur als die bloße Gewinnrechnung schaffen könnten. Und zweitens schafft er diesen Reichtum mit, aber nicht in den Händen derjenigen die ihn produzieren, nicht in ihrem Besitz. Es ist also die Gesellschaft der Lohnabhängigen, die den Reichtum schafft für die Gesellschaft der Reichen, die sowieso schon alles haben, was sie brauchen. Aber vielleicht haben die Arbeiter ja trotzdem bei der kapitalistischen Produktionsweise etwas zu gewinnen. Schauen wir weiter in den Teile 3-5.
Die kapitalistische Produktionsweise stellt eine unermessliche Gütervielfalt her. Beweis: Sieht man doch! Was ist von dieser Behauptung zu halten?
Die nüchterne Erfahrung zeigt, dass die wenigsten Menschen, die sich positiv oder negativ auf Karl Marx berufen, wirklich Ahnung davon haben, für welche Inhalte und Erörterungen dieser Mann eigentlich steht. Dabei könnten sie durchaus einiges von ihm über ihre eigene ökonomische Lebenslage lernen. Denn nur vom Standpunkt einer ausreichend soliden Theorie lässt sich die Titelfrage, was für den Kapitalismus überhaupt spricht, beurteilen.
Folglich widmet sich diese Artikelserie von 5 Teilen dem bescheidenen Zweck, den interessierten Leser über einige der wichtigsten Argumente der marxschen Kapitalismuskritik aufzuklären. Diese sind seinem berühmten Hauptwerk "Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie" (Band 1) entnommen und von mir nach subjektiver Auswahl zusammengestellt. Da sie trotzdem aufeinander aufbauen, bitte ich den Leser, sie in der hier vorgegebenen Reihenfolge zu lesen.
Statt philosophisches Vorgeplänkel über Dialektik und Materialismus, Begriffe, die dem Leser des Buchs ohnehin wohl an wirklich keiner einzigen Stelle zu mehr Verständnis gereichen werden, weil sie der Logik der jeweils analysierten Sache inhaltlich rein gar nichts hinzufügen, steigen wir direkt in die Analyse ein.
Als Ausgangspunkt für eine Zusammenfassungen eignet sich hervorragend der Titel des Buchs. Es geht demzufolge ums "Kapital". Was ist ist das eigentlich? Kapital ist eine überschüssige Geldsumme K, die ihr Eigentümer in eine Unternehmung investiert. Ökonomisch rational ist die Operation nur dann insofern, wenn sie verspricht, dass nach Ablauf eines gewissen Zeitraums eine größere Geldsumme wieder zurück an den Eigentümer fließt, also die ursprüngliche Summe K und ein zusätzlicher Mehrwert M.
In Buch 1 des Kapitals widmet sich Marx vor allem der Analyse des produktiven Kapitals, also jener Sorte Investment, in welcher der Geldrückfluss über die Produktion und den Verkauf von "mehrwertgeschwängerten" Waren organisiert wird. Er untersucht, wie man mithilfe des Produktionsprozesses aus Geld mehr Geld macht und was diese spezielle Sorte der Geldmacherei notwendig für soziale Auswirkungen auf die Gesellschaft hat. Alle anderen Sorten von Investments (Finanzkapital, Handelskapital, Grundeigentum) sind lediglich davon abgeleitet, insofern logisch nachgelagert und werden erst in Buch 3 besprochen.
Argument 1: Produktion findet nur unter Vorbehalt des Mehrwerts statt
Was den Mehrwert angeht, so muss dieser einem zunächst wie ein Rätsel erscheinen. Wie kann es überhaupt sein, dass nach Ablauf einer Frist ein solcher am Ende tatsächlich herauskommt? Dass die Antwort darauf keinesfalls trivial ist, belegt sich schon daran, dass es unzählige Theorien gibt, die sich mit der Genese des Mehrwerts befassen. In der Tat haben sich schon vor und nach Marx sehr viele Theoretiker darüber den Kopf zerbrochen. Er selbst spricht z.B. die Schule der französischen Physiokraten, der Merkantilisten und der vormarxistischen Arbeitswerttheoretiker (Smith, Ricardo etc.) an und setzt sich mit deren Lehrmeinungen in seinem Buch "Theorien über den Mehrwert" kritisch auseinander.
Doch selbst wenn man an dieser Stelle vorerst noch ganz unparteiisch in Bezug auf die korrekte Auflösung dieses Rätsels bleiben möchte, folgt doch schon jetzt das erste vernichtende Urteil über diese Gesellschaft: Wenn bei einem Investment in die Warenproduktion kein Mehrwert in Aussicht steht, dann findet es nicht statt und eben auch keine Produktion. In einer Gesellschaft von lauter Privatproduzenten gibt es also alle lebensnotwendigen Güter, z.B. Medikamente, Nahrung etc., nur insofern sie den jeweiligen Investor reicher machen als er schon vorher war. Die Produktion muss sich letztlich für ein privates Bereicherungsinteresse lohnen, sonst bleibt sie aus. Und umgekehrt: Jede noch so ekelhafte Ware wird produziert, solange sich damit noch ein Geschäft machen lässt: Suchtstoffe, Waffen, Abgas-Schleudern, Gammelfleisch, Plastikmüll etc.
Mit anderen Worten: Der gesamte gesellschaftliche Stoffwechsel, was produziert wird und was nicht, ist nicht das Resultat eines gesellschaftlichen Beschlusses, sondern das eines privaten Rentabilitätskalküls. Jeder Investor rechnet für sich durch, ob sich ein Geschäft im Rahmen seiner Investitionsmöglichkeiten lohnt oder nicht, und die Gesellschaft hat von dieser Gewinnrechnung zu leben - sie ist abhängig davon. Staatliche Kontrollmechanismen sind hingegen eher ein Armutszeugnis für diese Gesellschaft. Nicht etwa deshalb, weil sie nicht funktionieren, sondern deshalb, weil es sie offenbar braucht. Die reine Gewinnrechnung kennt von sich aus keine Beschränkung: Sie verschmutzt Flüsse und Ozeane, verpestet die Luft, verunstaltet Landschaften, vergiftet Lebensmittel, erzeugt Suchtabhängigkeiten etc.
Allein das ist doch schon seltsam! Nicht die Beherrschung der Natur und schon gar nicht die allgemeine Bedarfslage sind die Kriterien dafür, was und wie produziert wird und was nicht, sondern irgendwelche Preise, die als Zettel an jedem verkäuflichen Eigentum kleben.
Kurzum: Eine gesellschaftliche Prioritätenliste der Bedürfnisse liegt nicht vor, schon gar nicht wurde darüber gesellschaftlich verhandelt, was auf diese Liste gehört - z.B. bequeme Unterkunft, sauberes Wasser, gesunde Lebensmittel etc. - und was nicht, und in welcher Reihenfolge solch eine Liste abzuarbeiten wäre. Produziert wird nur, was verspricht, sich bezahlt zu machen, und dann eben auch der größte Quark.
Argument 2: Die Produzenten entscheiden nicht über Was und Wie der Produktion
Was und wie produziert wird, entscheiden nicht diejenigen, die mit körperlichem Einsatz die Waren herstellen und sogar mehrheitlich auch verbrauchen, nämlich die Arbeiter und ihre Familien, die doch immerhin die Masse der Gesellschaft ausmachen; sondern letztlich allein diejenigen mit dem meisten Geld in dieser Gesellschaft, die also über genug Geld verfügen, nicht nur, um ihren aparten Lebensstil zu finanzieren, sondern darüber hinaus auch noch ein Zuviel an Geld haben, um die entsprechenden Investitionen tätigen zu können, die ihnen ihren Reichtum überhaupt erst bescheren und damit dieses Zuviel an Geld immer und immer wieder reproduzieren (vgl. Teil 5) - diejenigen mit Kapital also, die deswegen auch "Kapitalisten" heißen.
Was qualifiziert diese erhabene Sorte an Menschen zu dieser Entscheidungsmacht? Sind es vielleicht ihre besonderen technischen Kenntnisse der Arbeitsprozessabläufe, welche doch immerhin notwendig sind für eine reibungslose Produktion? Nicht unbedingt. Wenn die Investitionsmittel ausreichen, können sie sich im Bedarfsfall die nötigen Ingenieure, Techniker, Logistiker und was es sonst noch braucht auch ankaufen. Diese kennen sich im Zweifel ohnehin viel besser mit den technischen Aspekten aus, was sie noch lange nicht zu neuen Eigentümern des Produktionsprozesses macht. Es ist ja gerade ihre Expertise, die es dem Kapitalisten erlaubt, sich selbst vollständig aus dem Produktionsgeschehen herauszustreichen. Ja idealerweise funktioniert sein ganzer Laden von Anfang an komplett ohne ihn. Und mal Hand aufs Herz, je größer sein Personal anwächst, umso mehr zeigt sich doch eben genau darin auch, dass es auf ihn persönlich in technischer Hinsicht überhaupt nicht ankommt, selbst wenn es ihm so vorkommen mag und vermutlich auch sogar muss, denn immerhin muss er die Größe seiner Entscheidungsmacht ja auch vor sich selbst rechtfertigen. Elon Musk hat Elektroautos nicht erfunden, auch nicht die Raumfahrt, die Künstliche Intelligenz oder den Tunnelbau, auch wenn er sich gern als Tüftler präsentiert. Er hat sich nur entschieden, dass sich aus all dem ein gutes Geschäft machen lässt. Ob das wirklich so ist, muss sich noch beweisen (vgl. Teil 2 [1]/Argument 3).
Man kann einem erfolgreichen, technisch versierten Kapitalisten bestenfalls zugute halten, dass er die Anfangsorganisation in die Hand genommen hat, bei den richtigen Leuten vorsprechen war, Lizenzen eingeholt, Kapital eingetrieben, ein Team zusammengestellt und vielleicht sogar einige Anfangsideen beigesteuert hat. Na und?! Wenn das der Punkt wäre, müsste man in Analogie z.B. folgern, dass staatlichen Schulen, Universitäten und etliche Behörden - um mal ein paar hinreichend komplexe Organisationsstrukturen zu benennen - den Familien ihrer Gründer gehören sollten.
Oder sind Kapitalisten von der Bevölkerung durch eine Wahl dazu ermächtigt worden, über nichts Geringeres als die Produktionsgeschicke ganzer Nationen zu verfügen? Nein, sicherlich auch das nicht. Was sie qualifiziert, ist allein ihr Geld, woher es auch stammen mag - ob nun redlich durch Fleiß und sorgsame Sparsamkeit verdient (vgl. dazu Teil 5), reichlich geerbt, irgendwo zusammen geliehen oder ob durch windige Geschäfte und kriminelle Aktivitäten ergaunert. Das spielt alles keine Rolle, dem Geld sieht man es nicht an. Pecunia non olet.
Also um die Eingangsfrage zu beantworten. Was spricht für den Kapitalismus? Für den Kapitalisten offensichtlich sehr viel. Er ist der Macher in dieser Gesellschaft, seine Angestellten hingegen sind bloß die abhängige Variablen seiner Gewinnrechnung, und somit die Gesamtheit der Arbeiterschaft die Manövriermasse des Kapitals. Aber vielleicht gibt es ja doch ein paar Argumente, die auch dem Arbeiter den Kapitalismus noch schmackhaft machen könnten. Sehen wir näher zu in Teil 2 bis 5.
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