Article note: #good2know #thx + #grats
Collage aus Indymedia-BildernIndymedia blickt auf eine lange Geschichte zurück. CC-BY 4.0 Anne Roth

Dieser Beitrag wurde zuerst bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unter annalist.noblogs.org veröffentlicht.

The resistance is global… a trans-pacific collaboration has brought this web site into existence.

So begann der erste Eintrag auf einer Indymedia-Website am 24. November 1999. Indymedia ging wenige Tage vor den Protesten gegen die Tagung der Welthandelsorganisation WTO in Seattle online, und sollte die alternative Plattform für Berichte über eben diese Proteste sein. Seit einigen Jahren wuchs die Anti-Globalisierungsbewegung, die sich vor allem gegen Deregulierung des Welthandels, gegen Freihandelsabkommen und den Abbau sozialer Rechte richtete, die bei Gipfeln wie den WTO-, G7, IWF- und Weltbanktreffen verhandelt wurden.

In dieser Zeit wurde Attac gegründet, und es gab einen starken Bezug zum Aufstand der Zapatistas in Mexiko, die 1996 und 1997 zu „Interkontinentalen Treffen gegen Neoliberalismus und für Menschlichkeit“ eingeladen hatten. Auch in Deutschland gab es 1999 heftige Proteste gegen die EU- und  G7/G8-Gipfel in Köln: Zentrale Forderung war die Entschuldung der Länder des globalen Südens.

Parallel zum Wachsen dieser Bewegung entwickelte sich in Australien etwas ganz anderes: eine Software, die es möglich machte, schnell und ohne weitere Vorkenntnisse Texte, Bilder, Videos und Audiodateien im Web zu veröffentlichen. Eine der ersten interaktiven Web-Anwendungen mit der Möglichkeit zum „Open Publishing“ war entstanden – bislang gab es weder Wikipedia noch Blogs, Social Media noch lange nicht.

Wer im Netz veröffentlichen wollte, musste wissen, wie HTML-Seiten „gebaut“ und wie Server administriert werden, oder musste sich auf das Usenet und erste Foren beschränken. Oder die Möglichkeit haben, auf den ersten Websites von Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen.

Open Publishing, die Möglichkeit, eigene Beobachtungen, Berichte, Meinungen einfach per Formular online zu veröffentlichen, hat die Welt der Medien auf den Kopf gestellt. Heute ist nichts selbstverständlicher, als spontan Bilder, Texte, Videoclips bei Facebook, YouTube, TikTok zu posten und per Twitter weit zu verteilen. Wer Ende der 90er etwas mitzuteilen hatte, brauchte dazu gute Beziehungen zur AStA- oder Lokalzeitung, sonst blieb nur der Leserbrief. Das war mit einem Schlag anders.

Und so setzte der erste Eintrag fort:

The web dramatically alters the balance between multinational and activist media. With just a bit of coding and some cheap equipment, we can setup a live automated website that rivals the corporates. Prepare to be swamped by the tide of activist media makers on the ground in Seattle and around the world, telling the real story behind the World Trade Agreement.

(Das Web verändert die Balance zwischen multinationalen und aktivistischen Medien dramatisch. Mit ein bisschen Code und etwas billigem Equipment können wir eine automatisierte Live-Website aufsetzen, die den Unternehmen Konkurrenz macht. Bereitet Euch darauf vor, überschwemmt zu werden von der Welle aktivistischer Medienmachender*innen vor Ort in Seattle und überall auf der Welt, die die wirkliche Geschichte hinter der Welthandelsvereinbarung erzählen.)

Der 24. November 1999 in Seattle

In Seattle diente die gerade rechtzeitig vor dem Gipfel fertiggestellte erste Indymedia-Website zunächst dazu, den vielen Reporter*innen, Fotograf*innen und Videofilmer*innen eine Online-Plattform zu geben, die gekommen waren, um über die Proteste zu berichten. Indymedia, Kurzform für „Independent Media Center“ (IMC), war eine spontan entstandene Redaktion vor Ort, in der Material und Informationen ausgetauscht, gemeinsam bearbeitet und online gestellt wurden.

Die Notwendigkeit dazu entstand, weil Berichte über Proteste und Demonstrationen von etablierten Medien in der Regel erst veröffentlicht wurden, wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam – das ist heute meist nicht anders. Über friedliche Demos, kreative Aktionsformen oder einfach die Gründe, warum Menschen auf die Straßen gingen, fanden sich viel seltener Berichte. Und wenn’s dann doch geknallt hatte, dominierten die Erklärungen der Polizeipressesprecher*innen.

Indymedia-Websites veränderten diese Situation: Plötzlich war es nicht mehr nötig, die wenigen wohlwollenden Journalist*innen zu finden, mit Infos zu füttern und zu hoffen, dass irgendwas davon tatsächlich in der Zeitung landete. Aktivist*innen wurden zu Medienaktivist*innen, trugen Bilder und Texte zusammen und veröffentlichten sie einfach selbst.

Das IMC in Seattle war ein Riesenerfolg: Die Seite hatte in einer Woche 1,5 Mio. Besucher*innen und übertraf damit selbst CNN.

Die Indymedia-Software scheint heute banal, aber vor 20 Jahren war sie eine technische Revolution: Texte und Bilder konnten mit einfachen Web-Formularen hochgeladen und mit einem Klick veröffentlicht werden, viel schneller als jede Zeitungsredaktion. Bei Gipfelprotesten hatten die Unabhängigen Medienzentren viel mehr Material zur Auswahl: Viele Aktivist*innen lieferten Informationen, eigene Texte und Bilder, die dann zu Überblicksartikeln zusammengesetzt wurden.

Wie gesagt: Es gab weder Blogs noch Facebook und selbst Wikipedia musste erst noch erfunden werden. Ich habe selbst in den ersten Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten erlebt, dass die wenigen Reporter*innen etablierter Medien im Durcheinander den Überblick verloren und schließlich im Newsroom von Indymedia anriefen, um herauszufinden, was gerade wo passierte: niemand sonst hatte annähernd so viele Leute auf der Straße.

Nach dem WTO-Gipfel in Seattle 1999 entstanden temporäre IMCs samt eigener lokaler Indymedia-Website in rasender Geschwindigkeit auf allen Kontinenten. Im Jahr 2004 gab es über 150 Indymedia-Gruppen; davon mit Abstand die meisten in Nord-, Mittel-, Südamerika und Europa und jeweils ein bis zwei Handvoll in Afrika, Asien und Australien/Ozeanien.

Der Start von Indymedia in Deutschland

Mein erster Kontakt mit Indymedia fand während der Proteste gegen die IWF-/Weltbank-Tagung 2000 in Prag statt. Auch hier gab es eine eigene Website – die erste in Europa.  Selbstverständlich hatte niemand auf der Straße in Prag Mobiltelefone oder Laptops dabei, aber um nicht nur den Rest der Welt, sondern auch die Menschen vor Ort zu informieren, gab es in Prag (so wie auch sonst später üblich) sogenannte „Print-Ausgaben“. Sie enthielten Zusammenfassungen der Online-Inhalte, die in verschiedenen Sprachen an Aktivist*innen und die lokale Bevölkerung verteilt wurden.

Indymedia Deutschland entstand ein Jahr später: nach ein paar Monaten der Vorbereitung und einigen überregionalen Treffen ging der deutsche Ableger des Indymedia-Netzwerks im März 2001 mit einer eigenen Website online. Anlass war ein Castor-(Atommüll-)Transport ins Wendland. Die erste deutsche Redaktion traf sich in der Scheune eines alten Bauernhofs, Kameras waren rar und die Bilder mussten per Speicherkarte zu den Rechnern in die Scheune gebracht werden: Die Versorgung mit ausreichend Bandbreite nur für die lokalen IMC-Stationen in den Camps der Aktivist*innen erforderte noch viele Jahre monatelange Planung.

Nach dem intensiven Auftakt im Wendland begann der Alltagsbetrieb der Website de.indymedia.org, die bis heute online ist. Es gab keine ständige Redaktion, stattdessen fand  Kommunikation und Organisation über Mailinglisten, IRC-Chats und gelegentliche Treffen in verschiedenen Städten statt.

Dabei zeigte sich schnell, dass Indymedia auf zwei Säulen stand, die sich in einem ständigen Spannungsverhältnis befanden: Einerseits verstand sich das Indymedia-Netzwerk als Sprachrohr progressiver Bewegungen: es entstand parallel zu Gipfelprotesten und dort befanden sich temporär auch ganz reale physische Orte, an denen Medienaktivist*innen zusammenkamen, um Gegenöffentlichkeit zu realisieren. Andererseits war es ein Projekt, für das die Grundprinzipien des freien Internets zentral waren: Offenheit, Transparenz, Kollaboration, Partizipation – und damit war per se erstmal keine spezifische politische Aussage verbunden.

Ohne sich je physisch getroffen zu haben, entwickelte das internationale Netzwerk grundsätzliche Prinzipien und Kriterien für die Mitgliedschaft neuer Gruppen im Netzwerk. Es entstanden (virtuelle) Arbeitsgruppen für die Verwaltung von Servern und Debatten über Software (die in jedem Fall freie Software sein musste), für Übersetzungen, für Diskussionen über neue Mitgliedsgruppen, Grundlagen der Entscheidungsfindung und für die Finanzen. Indymedia bekam Spenden, die größte 2002 von der Rockband Chumbawamba, die die Hälfte der Einnahmen des Verkaufs eines Songs an General Motors an Indymedia spendete – immerhin 35.000 US-Dollar. Auch die Frauen der IMC-Gruppen hatten eine gemeinsame internationale AG, die früh durchgesetzt hat, dass nur die Teil des globalen Netzwerks werden konnten, die einen angemessenen Frauenanteil in den Gruppen hatten und auch sonst auf Diversität achteten.

Alle Entscheidungen wurden im Konsens getroffen, es gab für alles ein Veto-Recht und damit war alles nur möglich, wenn alle einverstanden waren. Ein gigantisches Internet-Demokratie-Projekt, das mit denselben Schwierigkeiten kämpfte, die das Netz bis heute beschäftigen.

Free Speech vs. Nazis raus

Vor allem aus den USA wurde der Fokus auf Meinungsfreiheit betont: alle können mitreden, alle haben die Gelegenheit sich zu beteiligen, niemand wird ausgeschlossen, alles wird veröffentlicht. Wer nicht einverstanden ist, kann die Kommentarfunktion nutzen, um die eigene Perspektive darzustellen.

Viele der europäischen Gruppen wollten antidemokratischen Stimmen keine Plattform bieten und zogen eine Moderationsgrenze ein: So erklärte das deutsche „Mission Statement“, de.indymedia.org solle „keine Plattform für menschenverachtende, sexistische, rassistische, rechtsradikale u./o. totalitäre Beiträge jeder Art“ sein. Erst nach monatelangen Diskussionen wurde entschieden, dass die deutsche Gruppe trotz dieser klaren und beabsichtigten Einschränkung des Open-Publishing-Grundsatzes Teil des Netzwerks werden durfte.

Überhaupt, die Kommentarfunktion.

Genau genommen ist sie ein einziges Missverständnis. Erfunden wurde die Kommentarfunktion, damit unter den veröffentlichten Inhalten von anderen ergänzt werden konnte, was fehlte oder anders gesehen wurde. Tatsächlich war sie auch bei Indymedia mehr oder weniger von Anfang an eine bunte Trollwiese: Beschimpfungen, Verleumdungen, rechte Hetze und persönliche Angriffe beschäftigten die (immer unbezahlt in der Freizeit aktiven) Moderationsteams weit mehr, als sich irgendwer ausgemalt hatte.

Ein Versuch, das zu korrigieren, war die Umbenennung der Kommentare in „Ergänzungen“, um deutlicher zu machen, dass hier zusätzliche Fakten gefragt waren, und weniger Meinung. Im nächsten Schritt wurden eingehende Kommentare unterteilt in inhaltliche Ergänzungen zum Text und andererseits – alles andere. Erstere wurden gut sichtbar zuerst dargestellt, alles andere blasser, kleiner und mit eingeklapptem Text darunter. Eine Lösung, die sich bedauerlicherweise sonst nirgends durchgesetzt hat, ich halte sie weiterhin für einen sehr sinnvollen Beitrag zu einer konstruktiven Diskussionskultur im Netz.

Spätestens seit dem Verbot des später gegründeten lokalen Projekts Indymedia Linksunten (Das Projekt linksunten.indymedia.org entstand 2008 als lokaler Ableger, dieses Projekt wurde 2017 nach Vereinsrecht verboten und klagt zurzeit gegen dieses Verbot. Das Verfahren gegen die mutmaßlichen Betreiber*innen wurde im August 2019 eingestellt. Das Urteil wird im Frühjahr 2020 erwartet.) assoziieren viele Menschen in Deutschland Indymedia mit Linksextremismus, Antifa oder jedenfalls einer sehr kleinen Subkultur.

Das war nicht immer so: 2002 bekam Indymedia Deutschland von „Politik Digital“ Indymedia als „hervorragende Initiative im Bereich eDemocracy“ den Poldi-Award für Wissenschaft, Bildung und Kultur – in der Jury saß u.a. die spätere Justizministerin Zypries. (Nicht alle fanden das gut).

Die Hochzeit der IMCs war nach nicht mal zehn Jahren vorbei. Kommerzielle Plattformen waren entstanden, die das Hochladen von Fotos und Videos viel einfacher und ansprechender anboten, es gab erste Blogs, die vielen ermöglichten, sich mit wenigen Klicks eine individuelle Website einzurichten, und schließlich kamen Facebook und Twitter, alles (scheinbar) umsonst.

Viele der Bewegungen, die Indymedia hervorgebracht haben, gibt es in der Form nicht mehr. Stattdessen ist die Kritik der „Mainstreammedien“ Bestandteil des Instrumentenkastens der neuen und alten Rechten geworden. Ganz offensichtlich hat der Zugang zur Produktion von Medien allein nichts Emanzipatorisches, wenn das Ziel nicht gleichzeitig auch ein herrschaftskritisches ist.

Inzwischen verschwinden die umfangreiche Archive des wohl größten aktivistischen Online-Nachrichten-Projekts langsam aus dem Netz: viele Gruppen haben sich lange aufgelöst, und auch die Techies, die die Infrastrukturen gepflegt haben, hatten irgendwann besseres zu tun. Dabei gäbe es hier noch viele Schätze zu heben: Bewegungsgeschichte, Medientheorie (und -praxis), Internationalismus.

Dennoch gibt es weiterhin einige unermüdliche Indymedia-Gruppen, die eng mit sozialen Bewegungen verflochten sind und ihren Communities wichtige Dienste leisten und das ist gut so.

Weiter online sind: Argentinien | Niederlande | Mexiko | San Francisco Bay Area | Lille | Brasilien | Brüssel | Guatemala | Irland | Nantes | Boston | Barcelona | Germany | LA | Santa Cruz | Ecuador | Rosario

(Ohne Anspruch auf Vollständigkeit)


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Article note: Wie gruselig + heuchlerisch ist das denn bitte ...!?!!!???

Europas größter Onlinemodehändler setzt bei seiner Jagd nach Profit auf die „Performance- und Entwicklungsplattform“ namens Zonar. Über Funktionsweise und Auswirkungen des Systems klärt eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung auf. Was als vermeintlich „egalitär“ und „fair“ daherkommt, befördert die Ungleichheit und verfestigt Hierarchien, befinden die Autoren.
Mithilfe der Software wird die Belegschaft in Beschäftigte erster, zweiter und dritter Klasse gespalten und alle gegen alle ausgespielt. Forciert werden überdies Kontrolle, Disziplinierung und Lohndrückerei. Das Unternehmen streitet all dies ab. Angeblich führt man nur Gutes im Schilde. Das glaube, wer will. Von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ja, Zalando hat Recht: „Diese Studie ist nicht repräsentativ.“ Wenn von 2.000 Beschäftigten am Berliner Hauptsitz des Unternehmens lediglich zehn zu Sinn, Unsinn und Auswirkungen der Personalbewertungssoftware Zonar befragt werden, entspricht das nicht den allerhöchsten Ansprüchen der Empirie. Eine eingeschränkte „Reichweite, Vollständigkeit und Generalisierbarkeit unserer Ergebnisse“ räumen ja selbst die Verfasser ein. Wobei der Umstand, dass das Management „trotz mehrfacher Anfragen“ jede Auskunft verweigerte und damit als Datenquelle ausfiel, mindestens verminderte Schuldfähigkeit begründet.

Aber was tut das zur Sache, wo doch ihr Betrachtungsgegenstand, ein System, das George Orwells Big Brother als omnipräsentes Kollegenschwein installiert, schon für sich ein Skandal sondergleichen ist? Anders: Selbst für den Fall, dass es 99 Prozent der Belegschaft begrüßten, immerfort von ihren Mitarbeitern beäugt, bespitzelt und beargwöhnt zu werden, machte das die Sache keinen Deut besser – sondern noch viel schlimmer. Oder will und soll uns die vielbeschworene und vielgepriesene Digitalisierung womöglich genau dahin bringen? Es ganz normal zu finden, dass jeder seinem Nächsten eine Wanze, ein Spion, eine Drohne ist – und sich selbst dazu. Man könnte den Eindruck gewinnen.

Funktionsäffchen

Zonar jedenfalls macht`s möglich. Europas größter Onlinemodehändler Zalando hat seine „Performance- und Entwicklungsplattform“ seit drei Jahren im Einsatz und erreicht damit nach eigenen Angaben inzwischen 5.000 von insgesamt 14.000 Beschäftigten. Das System ist an die gängigen Internetratings angelehnt, mit denen Kunden zuvor erworbene Produkte beurteilen und benoten, wodurch andere Konsumenten beim Einkaufen im World Wide Web eine Richtschnur haben. Mit dem Vordringen der digitalen Technik in die Arbeitswelt werden Ratings indes zunehmend zu einem betrieblichen Evaluierungs- und Überwachungs- und einem Instrument der Leistungsvermessung. Geratet, gerankt und gescored werden nicht mehr nur Dinge, sondern Mitmenschen, Mitarbeiter oder, was sich Industrie und Digitalwirtschaft wünschen: Funktionsäffchen.

Die Sozialwissenschaftler Philipp Staab und Sascha-Christopher Geschke von der Berliner Humboldt-Universität haben sich im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zwei Jahre lang damit beschäftigt, wie das System bei Zalando funktioniert, wie es bei den Betroffenen ankommt und sich sein Gebrauch auf das innerbetriebliche Miteinander auswirkt. Für ihre am vergangenen Mittwoch vorgestellte 60-seitige Studie „Ratings als arbeitspolitisches Konfliktfeld“ haben die beiden Forscher Interviews mit besagten zehn Betroffenen sowie zwei Gruppendiskussionen geführt, Präsentations- und Schulungsmaterialien ausgewertet und Experten für Arbeitsrecht und Datenschutz hinzugezogen.

Betriebsklima leidet

Es habe sich gezeigt, stellen sie in einer einleitenden Zusammenfassung fest, „verschärfte Kontrolle und Konkurrenz innerhalb der Belegschaft schaden dem Betriebsklima; technologische Intransparenz wird zur Legitimierung betrieblicher Ungleichheit eingesetzt; und Legalitätsfragen, insbesondere im Bereich des Datenschutzes, bleiben ungeklärt“. An anderer Stelle schreiben sie von einem „sehr umfassenden, quasi panoptischen System der Leistungskontrolle“, das auf eine neue Ebene von Daten zur Leistungsvermessung zugreife, nämlich die „wechselseitige Bewertung“ unter Kolleginnen und Kollegen. Diese erweitere das „klassische Spektrum der vertikalen Arbeitskontrolle um einen Bereich, der bis heute als Wiege der Solidarität unter Beschäftigten und als dem Zugriff von Vorgesetzten entzogen galt“.

Im Technosprech der Silicon-Valley-Jünger heißt das Modell „Worker-Coworker-Ratings“ und im Falle Zalando läuft es so: Im Abstand von einem halben Jahr werden bis zu acht Angestellte durch Mitarbeiter, aber unter Beteiligung der jeweiligen Führungskräfte nominiert, um dann über Monate einer Rundumbeobachtung ausgesetzt zu sein. Im Prinzip werde von jedem erwartet, „permanent Aufzeichnungen zum Verhalten“ der Kolleginnen und Kollegen anzufertigen, konstatieren die Forscher. Wer funktioniert nach Plan, wer trödelt, wer stört die Abläufe? Wem etwas Positives oder Negatives auffällt, ist angehalten, seine Eindrücke und Wertungen praktisch rund um die Uhr (in the moment) direkt per App übers Smartphone ins System einzuspeisen. Laut Studie finden daneben regelmäßig „umfangreiche Leistungs- und Entwicklungseinschätzungen“ statt – sowohl durch die Kollegen als auch durch die Vorgesetzten. Beim 2017 eingeführten Zonar 1.0 geschah das einmal im Jahr. Mit dem neu implementierten Zonar 2.0 werde die systematische Leistungskontrolle durch den nun halbjährlichen Turnus „engmaschiger und umfassender“. Damit sollten Fehleinschätzungen „umgehend korrigiert und die leistungsadäquate Beförderung sowie die positionsadäquate Bezahlung schnell nachgeholt werden können“.

Fair die Löhne drücken

Hier gelangt man zu des Pudels Kern: Mit Zonar wird der Leistungs- und Lohndruck noch einmal drastisch erhöht, wobei so getan wird, als gehe es dabei sogar „demokratischer“ und „gerechter“ zu als früher. Denn nicht mehr der „böse Boss“ sagt an, wie gut oder schlecht jemand spurt und was ihm dafür an Geld zusteht, sondern die „lieben Kollegen“. Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) vom Mittwoch bezeichnete ein Zalando-Sprecher das Vorgehen denn auch als „wichtigen Bestandteil unseres Talentmanagements, mit dem wir Mitarbeitern und Führungskräften gleichermaßen die Möglichkeit geben, sich 360-Grad-Feedback einzuholen und zu geben“, und weiter: „Dieses System ist fairer als vorher.“

Mehr Augenwischerei geht kaum. In Wahrheit ist und wirkt Zonar kein Stück egalitär, sondern hochgradig elitär. Auf Basis der gesammelten Informationen erstellt ein Algorithmus individuelle Scores und unterteilt die Belegschaft in Mitarbeiter erster, zweiter und dritter Klasse. Wie Socken, T-Shirts und Unterhosen werden sie in Schubladen gesteckt und kriegen ein Label angeheftet: als sogenannte Low-, Good- oder Top-Performer. Bei Wohlgefallen winkt eine Gehaltserhöhung, bei Missfallen droht der Rauswurf. Es werde eine betriebliche Hierarchie hergestellt, „die vorher so nicht bestanden hat“, stellen Staab und Geschke fest. „Es ist folglich ein Instrument zur Herstellung betrieblicher Ungleichheit.“ Lediglich Top-Performer qualifizierten sich für eine bessere Bezahlung, wobei ihre Zahl „systematisch gering gehalten“ werde. In einigen Abteilungen würden bloß zwei bis drei Prozent der Beschäftigten entsprechend klassifiziert. Die Masse der Good-Performer erhalte nur einen jährlichen Inflationsausgleich, „was nichts anderes ist als Lohnstagnation“, befinden die Forscher.

In Googles Fußstapfen

Und natürlich „tritt“ Zonar nach unten. Mit schmerzhaften Sanktionen werde ein „Betriebsklima der Angst und ein Motiv des permanenten Statuserhalts“ erzeugt, heißt es hierzu. Gerade in der Wahrnehmung der befristet Beschäftigten gehe es dabei „nicht nur um den eigenen Lohn, sondern um den Arbeitsplatz“. Ein Befragter drückte dies so aus: „Ich merke, dass einige schon Angst haben, also gerade Leute, die denken, der Vertrag könnte möglicherweise nicht verlängert werden.“ Ein anderer beklagte, man bleibe auf seiner „Stellung“ festgenagelt. „Wenn jemand als Low-Performer bewertet wird, dann hat er es halt extrem schwierig, erst mal aus dieser Rolle wieder rauszukommen und sich überhaupt weiterzuentwickeln.“ Aber selbst die vermeintlichen Spitzenkräfte empfinden offenbar mehr Druck als Wertschätzung. Einer schilderte, wie man auf ihn einwirkte, einen Kollegen herabzusetzen, „oder du bist halt kein Top-Performer mehr. (…) Das halte ich für Erpressung.“

Zonar ist nicht das einzige System seiner Art. 2015 wurden in den USA Praktiken des Internetgiganten Amazon enthüllt, der mit seiner Software „Anytime Feedback Tool“ Führungskräfte überwacht, zum Verpetzen von Kollegen genötigt und Druck auf Kranke und „Minderleister“ ausgeübt hatte. In der Kritik steht auch das „re:Work“-Tool von Google. Immer drehen sich die Instrumente darum, die Beschäftigten zu disziplinieren, gegen andere in Wettbewerb zu setzen und die Personalkosten zu drücken. Staab und Geschke halten das deutsche Pendant für „eine stärker formalisierte und umfassendere Anwendung“. Sie verbinde die „breit angelegte Erhebung horizontaler Ratingdaten“ wie bei Amazon „mit der umfassenden, periodischen Leistungsevaluierung“ wie bei Google.

Bei Klogang Jobverlust

Die Penetranz, mit der die Digitaltechnologie dem Publikum als große und unaufhaltsame Errungenschaft der „schönen neuen“ Arbeitswelt 4.0 verkauft wird, steht in krasser Diskrepanz zu den Erfahrungen der Betroffenen. So sollen in den Versandzentren von Amazon in Großbritannien die lausig bezahlten, rundumgescannten Arbeiter sogar schon in Flaschen uriniert haben, weil der Gang zur Toilette bei ihrem Arbeitspensum nicht aufzuholen ist und „Zeitverschwender“ schnell ihren Job los sind. Die Plattform Organize.org ermittelte, dass Betroffene deshalb aufs Trinken verzichteten und 55 Prozent der Beschäftigten aufgrund der menschenverachtenden Arbeitsbedingungen unter Depressionen litten. Als die Zustände im Frühjahr 2018 publik wurden, beschied ein Konzernsprecher: „Wir konzentrieren uns darauf, dass wir allen unseren Mitarbeitern ein großartiges Arbeitsumfeld bieten.“

Dasselbe Spiel jetzt bei Zalando. Man entlohne seine Mitarbeiter „fair und lässt sie am wachsenden unternehmerischen Erfolg teilhaben“, ließ die Firmenleitung in Reaktion auf die Veröffentlichung ausrichten. 67 Prozent würden das Unternehmen als „guten Arbeitgeber“ weiterempfehlen, man begrüße „jegliche Art von betrieblicher Mitbestimmung“ und „Transparenz und eine offene Feedbackkultur“ wären „seit jeher gelebte Realität“. Ein in der Studie Befragter beklagt dagegen „Stasi-Methoden“. Es sei unverschämt, die Technik als „Selbstoptimierungstool“ zu präsentieren „und niemals auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, dass es eigentlich ein Kontrollsystem ist“.

Im Glashaus gefangen

Es gehe um eine „360-Grad-Überwachung“, bemerkte ein anderer. „Ich kann nicht einfach mal einen schlechten Tag haben“, noch Monate später schlage sich eine „Kleinigkeit“, an die er sich gar nicht mehr erinnere, in einem Feedback nieder. Verstärkt wird der Eindruck „totaler, einseitiger Transparenz“ noch durch die Art der Räumlichkeiten, in die Teile der Berliner Dependance mit der Inbetriebnahme des Zonar-Pilotmodells im März 2016 umzogen. Die Arbeitsplätze befinden sich seither in einer vollverglasten Produktionsebene und sind von praktisch überall einsehbar.

Weniger durchsichtig ist die „Mitbestimmungskultur“ im Unternehmen. Zalando habe nur „sehr fragmentierte Betriebsräte“, wovon manche schon wieder aufgelöst worden seien, schreiben die Studienautoren. Stattdessen werbe man mit der ZWP, der Zalando Employee Participation. Das sei ein „arbeitgebergesteuertes Instrument, welches keine amtlichen Rechte hat und somit aus juristischer Perspektive deutlich schwächer als ein Betriebsrat ist“. Ein Befragter merkte an, dass „Zalando natürlich den Betriebsräten oder dem Entstehen von Betriebsräten vorab die Luft rausnimmt, indem sie halt einfach eine eigene Arbeitnehmervertretung anbieten, auch wenn die arbeitgebergesteuert oder arbeitgeberzensiert ist“.

Chef bleibt Chef

Arbeitgebergesteuert sind freilich auch die vierteljährlichen „freiwilligen Umfragen zur Mitarbeiterzufriedenheit“, die das Management so rühmt. Nicht minder fragwürdig ist das Gerede von der „Feedbackkultur“, wonach quasi die Führungsetage beim Bewertungs- und Belohnungsverfahren außen vor bleibt und das Kollegium ein Stück weit die Regie übernimmt. Das Versprechen ist einmal mehr nur Fassade. Laut Studie wurde mit den Mitarbeitern die Logik des Systems an sich weder erörtert, noch sei offengelegt worden, nach welcher Logik die erhobenen Daten aggregiert und verarbeitet werden. Damit bleibe „vollkommen intransparent“, wie die individuellen Scores gebildet werden. „Der Algorithmus ist eine systematische Blackbox – was für die Beschäftigten besonders schwer wiegt, weil sie an dieser Stelle die eigentliche Ausübung betrieblicher Herrschaft verorten.“

Staab und Geschke identifizieren ein „methodisch hochgradig vorstrukturiertes Bewertungssystem“, das aufgrund seiner Konstruktion „gar keine anderen Ergebnisse produzieren kann als jene, die ihm von Managementseite vorab zugedacht sind“. Und wenn der Computer einmal nicht das genehme Ergebnis ausspuckt, hat am Ende eben noch immer der Boss die Hosen an. In besagtem „SZ“-Artikel kommt eine Betroffene zu Wort, die trotz guter Noten durch ihre Kollegen herabgestuft worden sei. „Egal wie gut dein Feedback ist, der Chef kann es auslegen, wie er will. Mag er dich nicht, ekelt er dich aus der Firma.“

Passiver Widerstand

Gut zu wissen: Zonar ist längst kein Selbstläufer. Die Analyse beleuchtet verschiedene Formen von „passivem Widerstand“ und „Subversion“. So werde etwa das Echtzeitrating „nicht oder so wenig wie möglich“ verwendet. Weiterhin zeigten sich Phänomene wie „Bummelstreiks“ oder „Dienst nach Vorschrift“. Ein Befragter beugt sich „halt wirklich nur, wenn ich dazu gezwungen bin, wie in dieser Feedbackrunde. Wie gesagt, diese Feedbacks proaktiv erwirken, das mache ich halt wirklich nicht.“ Auch Fälle von „expliziter Verweigerung“ sind überliefert, was schließlich zum erzwungenen Ausscheiden der Betroffenen geführt haben soll. Die beiden Wissenschaftler stellen angesichts dieser und anderer Friktionen wie „eine Verschlechterung des Betriebsklimas, Stress und psychologische Belastungen“ am Ende gar die These auf, das System werde „aller Wahrscheinlichkeit nach als effizienzsteigerndes betriebliches Kontrollinstrument“ scheitern. Allerdings funktioniere es „als Instrument der Lohnrepression und damit der Kostensenkung“.

Erfreulicherweise hat die Vorlage der Studie allerhand Empörung hervorgerufen. „So macht Digitalisierung, die enorme Chancen für bessere Arbeit bietet, den Menschen Angst“, monierte Norbert Walter-Borjans, Kandidat für den SPD-Parteivorsitz. Zonar sei ein Beispiel dafür, wie Technik dafür genutzt werde, die Menschen zu instrumentalisieren. „Derartige Methoden der Überwachung und gegenseitigen Kontrolle gehören verboten“, bekräftigte Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Partei Die Linke im Bundestag. Und Stefanie Nutzenberger, Bundesvorstandsmitglied der Gewerkschaft ver.di erklärte: „Algorithmusgesteuerte Kontrollen sind „intransparent, setzen die Beschäftigten in permanente Konkurrenz zueinander, missachten den Datenschutz und dienen dem Unternehmen als billige Ausrede, warum man keine Tarifverträge abschließen will“.

Auch der Datenschutzbeauftragten des Landes Berlin, Maja Smoltczyk, sind die Vorgänge nicht geheuer. Wie ihre Sprecherin Dalia Kues am Freitag dem Portal Netzpolitik.org bestätigte, habe Zalando die Behörde am Tag des Bekanntwerdens der Studie über den Einsatz der Software informiert und „wir haben daraufhin eine Prüfung eingeleitet“. Fast schon selbstredend legen die Befunde von Staab und Geschke auch „offensichtliche Zweifel an der Legalität des Systems nahe, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes“. Aber das kennt man ja von: Google, Facebook, WhatsApp, Amazon, Twitter, Instagram, Microsoft, Uber, Mastercard, UniCredit …

Article note: #iwieinteressant

Der Verein verspricht, dass Käufer für sämtliche verbauten Komponenten Ersatzteile bekommen und lässt den Laptop in der Schweiz zusammenbauen. Das komplette Hardwaredesign liegt zudem offen.

Im Innern werkelt ein Allwinner A64 Cortex-A53 und somit ein ARM-Prozessor mit vier Kernen. Dieser kann auf 2 GByte Hauptspeicher zugreifen. Des Weiteren gibt es ein 11,6 Zoll großes Display mit einer Auflösung von 1366×768 Pixeln. Die Tastatur nutzt ein US-ANSI-Layout.

Als Betriebssystem kommt Linux zum Einsatz, wobei Käufer die Wahl zwischen Debian GNU/Linux 10 mit Xfce oder Ubuntu Mate haben. Daten laden auf einer 128 GByte großen microSD-Karte. Kontakt mit der Außenwelt nimmt der Laptop über zwei USB-Schnittstellen, WLAN und Bluetooth auf.

Der Rechner kostet 390 CHF, derzeit rund 355 Euro. Die Lieferzeit beträgt derzeit rund drei bis vier Wochen. Weitere Informationen finden sich auf der entsprechenden Webseite.

Der Beitrag Schweizer Verein Faircomputer stellt nachhaltigen Laptop her erschien zuerst auf Linux-Magazin.

Article note: #thx4sharing

Digitaler Wandel in der Arbeitswelt: in Berlin präsentierten ExpertInnen unterschiedlicher Disziplinen zusammen mit der GfWM-Fachgruppe Digitale Transformationsprozesse vielfältige Perspektiven auf ein aktuelles Thema. Am 21. November 2019 präsentierte die Fachgruppe „Digitale Transformationsprozesse“ der Gesellschaft für Wissensmanagement (GfWM) e. V. im Rahmen des GfWM KnowledgeCamp 2019 in Berlin das kuratierte Dossier...